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Kreuzigers Tod

Kreuzigers Tod

Titel: Kreuzigers Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Oberdorfer
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Gefangenschaft wäre und irgendwo Zwangsarbeit leisten müsste. Und wenig später kam die Nachricht von seinem Tod. Meine Mutter musste Tag und Nacht arbeiten, um uns Kinder durchzubringen, und unsere Hauptaufgabe war es, ruhig zu sein, nicht zu stören, keine Arbeit zu machen. Es war keine schlimme Zeit, schlimm war nur, dass es keine schöne Zeit war. Es war so, nach dem Krieg, als herauskam, was es mit den Nazis wirklich auf sich gehabt hat, dass alle vor der Schande davonliefen, indem sie sich in ihre Arbeiten hineinstürzten, jeder für sich, als könnten sie durch den >raschen Wiederaufbaus wie es hieß, alles vergessen machen. Für Kinder war da kein Platz, so denke ich heute. Die Nachkommen eines Verlierervolkes waren irgendwie überflüssig, es gab keine weltgeschichtliche Aufgabe mehr, die auf uns wartete, sondern nur - die Scham. Die Erwachsenen waren leicht reizbar in ihren krampfhaften Anstrengungen. Über die Vergangenheit redete keiner, wenn, dann über die Zeit vor dem Krieg, und die lag schon so weit zurück, dass in den Geschichten Wagenmacher und Schmiede vorkamen. Meine Mutter lebte in einem sonderbaren Verhältnis zu den anderen Leuten. Sie war alleinstehend und jung, und das sorgte für Argwohn. Allen schien die Wahrscheinlichkeit groß, dass da etwas nicht stimmte, dass es da vielleicht jemanden gab, der auf Besuch kam, der das Haus betrat und zu lange drinnen blieb. Es gab viele Witwen mit Kindern nach dem
    Krieg und wenige Männer und also viele, die genau auf- passten, dass weiterhin trotz Niederlage und Zusammenbruch alles mit rechten Dingen zuging und nur ja nichts passierte, und wer am meisten aufpasste, nicht nur, dass nichts passierte, sondern, dass nicht einmal der Anschein, es könnte etwas passieren, sich ergab, das war meine Mutter. Wie harsch und kalt sie immer war, und wie unglücklich insgeheim. Genau wie man sagt: raue Schale, weicher Kern. Nur, diesen Kern bekam ich selten zu spüren und wenn, dann war er so weich wie ein fauler Apfel. Manchmal hat sie grundlos geweint, und wenn ich sie gefragt habe, was los ist, hat sie nur den Kopf geschüttelt und weiter geweint. Ich ging da schon in die Schule. Man erfüllt seine Pflichten, um nicht aufzufallen. Als ob man durch eine sehr enge Gasse läuft. Wenn man nicht aufpasst und irgendwo anstreift, blutet man. Ich erinnere mich, wie scharf und stachlig mich der Religionslehrer angestarrt hat, als hätte ich etwas zu verbergen. Ich war schön, galt als schön. Ich kannte das schon: die lustigen Gesichter der Männer, wenn sie meiner Mutter auf der Straße begegneten. So ein Zug um den Mund, wenn sie sie anlächelten. So etwas leicht Klebriges, das in der Luft lag, unvermittelt und grundlos, und da war dann meine Mutter, die sich ein oder zwei Scherzworte lang diese Lage gefallen ließ und dann mit einer scharfen Bemerkung so eine Begegnung abbrach und schließlich mit einem Gesicht, als hätte sie gerade etwas sehr Bitteres gegessen, weiterging. Ich hatte allen Grund, die Freundlichkeiten der Burschen genau wie sie zu erwidern. Ich lernte keinen näher kennen, ja, ich hatte niemals mit einem Mann irgendetwas zu tun gehabt, bis ich mit dem Arbeiten anfing, da war ich neun-zehn. Dafür zogen mich alte Frauen in ihr Vertrauen, und eine gab es, eine Nachbarin, die mir immer Angst machte mit wilden Geschichten über das, was die Männer haben, und was sie damit anstellen und den Frauen antun. Entsetzliche Geschichten, entsetzliche Geschichten, wirklich. Und meine Mutter war nicht mit mir zufrieden. Sie war es nie gewesen und sie war es auch nicht, als ich fast zwanzig und noch vollkommen keusch war. Ich hatte mich noch nicht einmal selbst berührt, nicht einmal daran gedacht, es zu tun, als sie eines Tages nach dem Abendessen sagte, dass das so nicht weitergehen könnte. Was mir eigentlich einfiel, alle jungen Männer so von oben herab zu behandeln. Glaubte ich, dass ich etwas Besseres wäre? Dass ich etwas anderes und mehr verdiente als einen ganz normalen Mann? Dass mich ein anderes Schicksal erwartete als andere Frauen? In meinem ganzen Leben bin ich nie so beschämt und vor den Kopf gestoßen worden wie in diesem Moment. War es nicht richtig gewesen, dass ich, genau wie sie, mit keinem Mann etwas zu tun haben wollte? >Es wird Zeit, dass du heiratest, das wird dir nicht erspart bleiben<, sagte meine Mutter und ging aus dem Zimmer. Von da an tat sie so, als zählte sie die Tage, bis ich nicht mehr zum Haushalt gehörte. Plötzlich fiel es

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