Kreuzigers Tod
sie stehen bleibt, und dann auf einmal wird es Abend.«
»Was hast du denn jetzt vor?«
»Ich denke, dass ich auswandern werde.«
»Auswandern? Wohin denn?«
»Ich weiß es noch nicht. Weit weg.«
»Darf ich dich etwas fragen?« »Ja.«
»Heute ist doch das Begräbnis von Franz.«
»Jetzt«, sagte sie, »jetzt ist das Begräbnis von Franz.«
»Ja, jetzt«, sagte ich. Wir schwiegen und ganz leise aus der Ferne hörte man Klänge eines Trauermarsches. »Warum bist du nicht hingegangen?«
»Man hat bei mir angerufen, gestern, und gesagt, dass ich nicht erwünscht bin.«
»Soso«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie.
»Wer hat angerufen?«
»Es wurde kein Name genannt und gleich wieder aufgelegt. Ich denke, es ist von der Familie ausgegangen.«
Sie wirkte abwesend und gleichgültig, als sie das sagte.
»Du weißt wahrscheinlich, warum ich zu dir komme.«
»Wahrscheinlich«, sagte sie nur, wobei unklar blieb, ob sie mein »wahrscheinlich« einfach wiederholte oder ob sie es von sich aus sagte.
»Es gibt noch einiges zu klären, Anna, was Kreuzigers Tod betrifft. Ich hätte da noch ein paar Fragen.«
Sie nickte. »Frag ruhig.«
»Kannst du dich an den Moment erinnern, als der Engel vor zwei Tagen am Vormittag in Vergeiners Laden hereingestürmt kam und uns die Nachricht von dem Mord überbrachte?«
»Ich weiß nicht, ich glaub schon.«
»Der Hans Vergeiner und ich haben in dem Moment, in dem der Engel uns von dem Anruf der Mühlbacherin und dem Mord erzählte, gleichzeitig zu dir hingeschaut. Wir wandten uns zu dir hin, weil du neben der Mühlbacherin wohnst und als Einzige im Dorf Kontakt zu ihr hast. Und so konnte ich deine erste Reaktion auf die Nachricht von dem Mord beobachten.«
Ich schwieg und sah sie an. Sie blieb gelassen.
»Und?«, fragte sie schließlich.
»Nun. Wenn man von etwas überrascht ist und im Moment der Überraschung in ein anderes Gesicht blickt, dann spürt man, ob der andere ebenso überrascht wurde, oder aber nicht. Und du, du warst nicht überrascht. Von der Tatsache, dass da von einem Mord die Rede war, warst du nicht überrascht. Du schienst davon gewusst zu haben, und als ich nach der Begehung des Tatorts zu dir kam, um dir vom Tod deines Mannes zu erzählen, warst du wieder nicht sonderlich betroffen und erklärtest dein Gefasstsein so: Du hast es geahnt, sagtest du. Als du am Morgen ein Bad nahmst, habe die Mühlbacherin bei dir angeklopft. Sie hat mit ihrem Stock ge-gen die Haustür geschlagen, was sie sonst nie tat, und hat, was sonst auch nie vorkam, laut und aufgeregt deinen Namen gerufen. Schon in diesem Moment hast du geahnt, dass etwas Schreckliches passiert ist. Als du später dann im Geschäft hörtest, dass die Mühlbacherin einen Mord meldete, hast du dir gleich gedacht, dass die Sache etwas mit dir zu tun hat und dass Franz das Opfer war. So hast du mir das erklärt, oder nicht?«
»Vielleicht war es so.«
»Du sagtest, dass es so war. Das hast du mir gesagt. Hast du mich vorgestern angelogen?«
»Nein.«
»Dann war es also so.«
»Ja.«
»Und doch war es nicht so.«
»Was?«
Jetzt konnte man Spuren von Unsicherheit in ihrem Gesicht erkennen.
»Ich war vorhin bei der Mühlbacherin.« Ihre Augen weiteten sich, wurden groß und schön. »Sie sagte, dass sie nach dem Leichenfund auf dem Weg zu ihrem Haus bei dir geläutet habe. Ich fragte mehrmals nach und sie blieb dabei, sie habe nur geläutet und niemand habe aufgemacht. Sie habe weder mit dem Stock gegen die Tür geschlagen noch deinen Namen gerufen. Ich erzählte ihr von deiner Aussage, und sie sagte, dass du dich getäuscht haben musst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht jeder ein Polizist wie du und kann sich immer an alle Einzelheiten erinnern. Vielleicht habe ich mich getäuscht, vielleicht hat sie sich getäuscht, wer weiß, welche Rolle spielt das?«
»Ich habe dir gerade auseinandergesetzt, dass das einewichtige Rolle spielt, nämlich bei der Erklärung deiner Gefasstheit, als du im Vergeiner'sehen Laden von dem Mord hörtest.«
»Und ich glaube, dass du auf dem Holzweg bist, wenn du dich auf solche Einzelheiten konzentrierst.«
»Die Widersprüche in den Aussagen weisen darauf hin, dass gelogen wurde.«
»Da bist du zu voreilig. Die einen sagen das und die anderen das, das ist doch immer so. Das heißt noch lange nicht, dass mit Absicht gelogen wurde.«
»Die Mühlbacherin aber hat zugegeben, dass sie gelogen hat.«
»Was?«
Ich sagte nichts und studierte ihr Gesicht, das in
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