Kreuzigers Tod
gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, bei ihr zu läuten, und doch hatte ich es nie getan. Das bloße Vorbeigehen an diesem Haus hatte mich jedes Mal innerlich zusammenbrechen lassen. Während beim Auf-das-Haus-Zugehen sich mein Kopf mit Phantasien, Anna und mich betreffend, angefüllt hatte, waren diese jedes Mal jämmerlich zerplatzt, wenn ich, beim Haus angelangt, nicht stehen blieb, sondern weiterging, als sei mein Ziel nie das Haus gewesen, sondern immer nur der Wald. Einerseits hatte ich, wenn ich an diesem Haus wieder nur vorbeigegangen war, unzweifelhaft verloren, andererseits war ich dadurch von Verwicklungen verschont geblieben, vor denen ich große Angst hatte. Einmal nämlich hatte ich sie angetroffen und sie hatte mich ins Haus gebeten. Wir waren an die-sem späten Vormittag, an dem ich wie immer nichts zu tun gehabt hatte, in ihrer Stube gesessen und hatten geredet. Mir und wohl auch ihr war im Verlauf dieses bloßen Zusammenseins klar geworden, dass es so nicht wiederholbar sein würde, sondern dass eine Entwicklung ihren Lauf nehmen würde in Richtung auf Vertiefung und Verdichtung, die, einmal begonnen, nicht rückgängig zu machen wäre. Welche Unbefangenheit ich in ihrer Nähe gespürt hatte und welche Zufriedenheit, welche Gleichgültigkeit gegenüber allem außerhalb des Raumes, in dem ich mit ihr saß! Und es war gut, dass ich kein Verhältnis mit ihr begonnen habe. In der schwierigen Stellung, in der ich mich im Dorf als unbeamteter Aushilfspolizist immer befunden habe, wäre es unverantwortlich gewesen, in eine fremde Ehe einzudringen, zumal die Ehe hier die einzige Form von Beziehung war, die zwischen Mann und Frau erlaubt war.
Ich läutete, und meine Aufmerksamkeit schwärmte aus, um Vorgänge im Haus wahrzunehmen, Schritte oder Geräusche, die mein Läuten auslöste. Es blieb ungeheuerlich ruhig, so ruhig, als wäre da niemand. Aber ich spürte, dass sie da war. Hatte sie mich schon gesehen und zögerte, die Tür aufzumachen? Ich erschrak, als mit einem lauten Geräusch das Türschloss aufsprang und Anna dastand.
»Komm«, sagte sie und ging voraus ins Hausinnere.
In diesem Moment streifte ein Gesangsfragment mein Ohr. Ich horchte in die Ferne, und vom Wind hin und her gewendet und verdreht, war der Begräbniszug zu hören, der jetzt offenbar langsam und schwankend das Dorf auszufüllen begann. Ich folgte ihr ins Haus. Dort war es dunkel. In den Bergen schlägt das Wetter schnellum, und ich dachte zunächst, dass sich der Himmel draußen plötzlich verdüstert hätte und das Sonnenlicht zurückhielt. Dann aber sah ich, dass neu ausgemalt worden war - und zwar schwarz. Das Wohnzimmer aus Lärchenholz war kaum wiederzuerkennen. Nicht nur die Wände waren neu eingefärbt, auch sämtliche Gegenstände im Raum, die Möbel, der Fernseher, die an den Wänden hängenden Bilder und all die kleinen Dinge, die man aus unerfindlichen Gründen auf Kommoden und Kästen zu stellen pflegt, alles war schwarz. Auch das Kreuz im Herrgottswinkel war schwarz, aber das, so erinnerte ich mich, war immer schon schwarz gewesen. Durch diese totale Schwärze fühlte ich mich ein wenig unbehaglich, es war, als hätte sich der Raum um uns herum zusammengezogen. Ich fragte nicht, warum sie das gemacht hatte. Diese Frage schien ohnehin im Raum zu stehen. Anna aber sagte nichts. Sie bot mir einen Stuhl an. Jede ihrer Bewegungen wirkte sonderbar theatralisch, und ich reagierte nur langsam.
»Schnaps?«, fragte sie knapp.
»Gern«, sagte ich.
Sie lächelte und stellte eine Flasche mit klarem Marillenschnaps auf den Tisch. Schon bald roch es wie unter einem Marillenbaum.
»Die Kästen und Schubladen sind innen nicht umgefärbt worden. Ich fing mit den Möbeln an, weil mir das Lärchenholz mit seinen vielen dunklen Flecken nie gefallen hat, ich machte weiter mit den Wänden und dann mit den Gegenständen und beließ es aber bei dem, was man auf den ersten Blick sehen kann.«
Sie schenkte mir ein.
»Bist du betrunken?«
Die Frage überraschte sie, dann lachte sie frei heraus, wie ich das noch nie an ihr gesehen hatte.
»Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
Sie wirkte eigenartig unbefangen, ihr Gesicht war rot und glänzte. Die Lippen hingegen waren fast weiß.
»Wie ... wie geht es dir? Du bist ja jetzt allein.«
»Es ist ungewohnt. Ich hab mir das Alleinsein oft gewünscht. Die Zeit bewegt sich ganz anders, wenn man allein ist. Manchmal am Nachmittag hab ich überhaupt das Gefühl, dass
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