Kreuzweg
Herdes die Hand, um die sie anschließend ein dreckiges Küchenhandtuch wickelte, weshalb sich die Brandwunde entzündete. Sie kannte sich in ihrem verdunkelten Leben nicht mehr aus.
Man werde einen guten Platz in einem Heim suchen. Erst als sich alle einig waren, wurde Oma Gleis darüber informiert. Ich gab ihr einen aufmunternden kleinen Klaps auf die Hand, um die die Gemeindeschwester einen sauberen Verband gewickelt hatte, und sagte, ich ginge mal Kaffee machen. Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie erschüttert sie war.
Das Wasser in dem altmodischen Wasserkessel kochte. Ich goss einen Schuss auf den gemahlenen Kaffee und schnupperte daran: Zuerst anfeuchten, dann den Filter ganz voll gießen. So hatte es mir meine Mutter beigebracht. Als das intensive Aroma in meine Nase drang, begann sich plötzlich alles zu drehen. Der Stuhl, auf den ich mich hatte setzen wollen, drehte sich ebenfalls. Mit einem dumpfen Schlag fiel ich auf die Küchenfliesen: gelb und grün. Gemasert. Kalt.
Wie ich wieder auf den Stuhl gekommen bin, daran erinnere ich mich nicht mehr. Die Schwester stand auf einmal neben mir und betupfte mir das Gesicht und die Schläfen mit einem feuchten Geschirrtuch. Alles würde gut werden, meinte sie, um mich zu beruhigen. Da hätten mich wohl meine Gefühle übermannt. Oma Gleis werde jedoch nicht so endgültig aus meinem Leben verschwindenwie meine Mutter. Das verstünde ich doch, oder? Es sei nur zu ihrem Besten. Ich müsse sie einfach ganz oft besuchen gehen. Das Heim, auf dessen Warteliste sie stand, lag am Rande des Dorfs. Ein Viertelstündchen mit dem Rad, nicht mehr. Sie redete unaufhörlich, während sie neues Wasser in den Filter goss. Sie stellte mir eine Tasse Kaffee vor die Nase und sagte energisch «Hier, trink das! Dann bist du gleich wieder auf den Beinen.»
Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob der Rest der Gesellschaft etwas von dem kleinen Zwischenfall mitbekommen hatte. Es war mir ganz unmöglich, den Kaffee auszutrinken. Ich ekelte mich davor. Kippte die Tasse in den Ausguss und kniff mir in die Wangen, bis sie wieder gut durchblutet waren.
«Dann werde ich mich wohl damit abfinden müssen», hörte ich Oma leise sagen, als ich wieder ins Zimmer trat.
«Ich werde oft zum Lernen hierherkommen und auf dein Haus aufpassen, Oma», sagte ich zu ihrer Beruhigung. «Und dann besuche ich dich und erzähle dir, wie es läuft.»
Für diese Bemerkung bekam ich später von der Frau von der Fürsorge ein Kompliment. Es würde den Abschiedsschmerz mildern, wenn nicht gleich das ganze Haus leer geräumt und verkauft werden würde. Oma könne ja ihre vertrauten Gegenstände mit ins Heim nehmen. Die würde sie nächste Woche gemeinsam mit Tante Hilda aussuchen. Mein Vater schlug vor, einen Lieferwagen zu mieten, wofür er gern die Kosten übernehmen wolle. Das Schild mit der Aufschrift «Gott sieht dich. In diesem Hause flucht man nicht» müsse unbedingt mit.
«Dann sieht wenigstens einer, wohin sie mich abschieben», sagte Oma. Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie noch nicht ganz kapituliert hatte.
Als alle wieder fort waren und Oma fernsah, wie wir das trotz ihrer nichtssehenden Augen auch weiterhin nannten, wusch ich die Tassen ab und spülte die Thermoskanne aus. Da wellten sich die Wände noch einmal, diesmal blieb ich jedoch auf den Beinen.
NEUNTE STATION:
J. fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz.
Die Bildchen meines Vaters, insgesamt achtundzwanzig, hatte man auf Augenhöhe im Ratssaal des Rathauses aufgehängt. Ein ganzes Stück höher hing die richtige Kunst: Könige und Edelleute blickten goldgerahmt aus einsamer Höhe auf bunte Giraffen herab, Jahrmarktkarussells, Ruderboote auf einem Teich, puppenhafte Kinder mit Luftballons.
Unbehaglich streifte mein Vater in seinem dunkelblauen Anzug mit silbergrauer Krawatte zwischen den Besuchergrüppchen umher. Dieselbe Kombination, die er auf Mamas Begräbnis getragen hatte. Ein stechender Schmerz im Magen erinnerte mich an den Kummer von damals. Da war jedoch noch etwas, was ich aber sofort verdrängte: mein Mitgefühl mit ihm. Oder war das wieder Mitleid? Er war heute der Mittelpunkt des Abends und strahlte dennoch vollkommene Einsamkeit aus.
Ich riss mich zusammen und stellte mich zu Matteo, der ebenfalls eingeladen war. Zu diesem Anlass hatte er ein lilafarbenes Hemd angezogen und seine
combat boots
auf Hochglanz poliert.
«Meine Damen und Herren», ergriff die Kulturabgeordnete das Wort, indem sie in die Hände klatschte.
Weitere Kostenlose Bücher