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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Broeckhoven
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Ecke des Wohnzimmers als sonst. Ich vermisste den vertrauten kitschigen Schmuck, entdeckte stattdessen Kugeln und Schleifen, die ich nie zuvor gesehen hatte.
    «Ich habe nicht vor, deine Mutter zu ersetzen», sagte sie, während mein Vater das Messer nahm, um den Truthahn anzuschneiden. Will ich dir auch geraten haben, dachte ich. Ich hielt meinen Teller hin, bis zwei dicke Scheiben Geflügel darauf lagen. «Meine Tochter isst zurzeit wie ein Scheunendrescher», lachte Papa. Die Geisha nahm nur eine Miniportion, die sie so langsam aufaß, wie eine Schildkröte läuft.
    Vor genau einem halben Jahr war Mama gestorben.

ZEHNTE STATION:
J. wird seiner Kleider beraubt.
    Wenige Tage nachdem das neue Jahr begonnen hatte, zog Oma Gleis in ihr neues Zuhause. Es würde ihre letzte Station sein. Ich hatte ihr beim Auswählen der Gegenstände, die mitdurften, geholfen. Aus den tiefsten Winkeln der Schränke, geheimen Schubladen und verstaubten Koffern stieg meine Mutter in unbekannten Gestalten oder Erinnerungen empor. Fotos mit gezacktem Rand, Zeichnungen, ihre ersten Schuhe, zwei sich überraschend lebendig anfühlende Zöpfe in einem braunen Umschlag, Milchzähnchen in einer kleinen elfenbeinernen Dose.
    Im einzigen Geschäft des Dorfs kaufte ich für Oma heimlich zwölf Feinrippschlüpfer und vier BHs, drei Flanellnachthemden und einen Stapel flauschiger Handtücher. In jeden der zehn nagelneuen pastellfarbenen Waschlappen stecke ich eine kleine Überraschung hinein: eine Rolle Pfefferminzbonbons, eine Minitube Handcreme, eine Hotelseife aus Mamas Kollektion. An jenem Tag, an dem sie für immer von ihrem vertrauten Haus voll schwarzer Löcher und Fallgruben Abschied nehmen musste, stromerte ich ziellos und allein durch die Stadt. Zu feige und zu verwundbar, um Zeuge ihres Schwanengesangs zu werden. Ich könnte es nicht mit ansehen, wie sie am Arm meines Vaters zum Wagen gelotst würde, wie sie, als letztenGruß, die Augen suchend in Richtung der weißen Mauern ihres Hauses aufschlagen würde. Wie sie über glänzend gebohnerte Gänge von einer vergnügten Pflegerin zu ihrem neuen Nest geführt werden würde. Das schaffte ich nicht.
    Ich war jedoch die Erste, die sie besuchte, nachdem sie sich eingerichtet hatte. Noch am selben Abend. «Es ist besser so, Kind», sagte sie tapfer, «auch wenn ich später einmal so richtig laut fluchen werde. Wo hängt jetzt bloß das Auge Gottes? Dann setze ich mich mit dem Rücken davor.»
    Zwei silbrige Spuren liefen über ihre Wangen.
    Das Haus an den Gleisen wurde nun mehr denn je zu meinem Zufluchtsort. Ich kochte auf dem altmodischen Gasherd, aß an dem kleinen Küchentisch von Omas angeschlagenen Tellern aus Delfter Porzellan und erledigte dort auch meine Hausaufgaben. In dem Zimmer, in dem ich schlief, wachte meine Mutter über mich. Mein Vater versuchte mich umzustimmen. Was würden nur die Leute denken, so ein junges Mädchen allein in einem halb leeren Haus? Doch die Geisha, die sich alle Mühe gab, mir keine Ersatzmutter zu sein und erst recht keine garstige Stiefmutter, meinte: «Lass sie nur! Sie ist erwachsener, als du denkst und kann für sich selbst entscheiden.» Sie sagte das über meinen Kopf hinweg, so als wäre ich nicht anwesend. Trotzdem war ich ihr dankbar dafür. Ich war viel erwachsener, als mein Vater dachte. Und viel einsamer.
    In Omas Haus war Platz für meine verwirrten Gedanken und mein wachsendes Geheimnis. Dort fühlte ich mich sicher, unbeobachtet. Manchmal ging ich ziellos im Wohnzimmer umher, das kahler und leerer war als früher und von Heimweh durchdrungen. Oma hatte ihren Lehnstuhl sowie das hohe runde Beistelltischchen, aus unerfindlichen Gründen «der Teetisch» genannt, mitgenommen. Auf den Tapeten mit den französischen Lilien zeichneten sich hier und da bleiche Rechtecke ab. Gott sah mich nun nicht mehr, und das war gut so. Er wachte jetzt über Oma Gleis und konnte nun mit einem einzigen Blick ihr ganzes Territorium überschauen. Die Anzahl goldumränderter Gläser und Porzellantassen im Glasschrank hatte sich halbiert, aber immer wenn ein Zug vorbeidröhnte, war da dieses zittrige Klirren, das sich mit sanften Schüben unter meiner Haut fortsetzte.
    Das Haus schloss sich Tag für Tag mehr wie ein Kokon um mich. Es wurde mein persönliches, streng von der Außenwelt abgeschirmtes Territorium, zu dem niemand Zugang erhielt. Noch nicht einmal Matteo. Was er akzeptierte, obwohl er sich einmal aus Spaß erkundigte, ob ich vielleicht einen heimlichen

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