Kreuzweg
Alle verstummten. Sie hielt eine Rede. Über Kunst, die tröstlich sein kann, über Schönheit, die die Welt retten kann.Über meinen Vater, der in dieser schwierigen Phase seines Lebens seine Kreativität in neue Kunstwerke gesteckt hatte. Über das Kind, das in keinem von uns verloren gehen dürfe. Über seine einzige Tochter, die heute ebenfalls anwesend war und ihn bedingungslos unterstützte. Woher nahm sie das? Damit erklärte sie diese außergewöhnliche Ausstellung für eröffnet, gab den beiden Männern, die mit einem Tablett voller Gläser warteten, ein Zeichen. Während des höflichen Applauses strich sie sich das glatte schwarze Haar aus der Stirn, wodurch ihr wachsbleiches Gesicht besser zu erkennen war. Da ging mir ein Licht auf: Sie war diese Frau auf dem Triptychon. Die Geisha!
Sobald sich die Menschentraube in Bewegung setzte, steuerte ich direkt auf die Porträts zu. Mit einem Glas Weißwein in der Hand studierte ich die Gesichtszüge gleich in drei Varianten, zunächst aus der Nähe, dann mit ein wenig Abstand – wie ein echter Kunstkenner. Es gab überhaupt keinen Zweifel: Das war die Kulturabgeordnete. Das glatte, gerade geschnittene Haar, der blasse Teint, der ihr einen vornehmen, fast japanischen Ausdruck verlieh … Als ich mich umwandte, bekam ich gerade noch mit, wie sie mit meinem Vater anstieß. Unsere Blicke begegneten sich.
Matteo stellte sich zu mir. «Die Tiergärten und Jahrmarktgeschichten finde ich eigentlich ganz witzig», sage er. «Irgendwie auch entwaffnend, vor allem, wenn man weiß, dass sie von einem Erwachsenen gemalt wurden. Noch dazu von so einem seriösen wie deinem Vater. Seine Porträts gefallen mir etwas weniger.»
Mit gedämpfter Stimme flüsterte er mir ins Ohr. «Die Geisha ist bestimmt sein ultimativer Versuch, es mit seiner Kunst in den Rathaussaal zu schaffen. Ohne das Dreifach-Porträt hätte er es wohl kaum weiter als in die Vorhalle gebracht.»
Wir mussten kichern.
Jemand sagte: «Gebt den beiden Turteltauben noch ein Glas!» Ich nahm meinen Mut zusammen und ging zu meinem Vater, um ihm zu gratulieren. Mit roten Wangen berichtete er, es seien schon vier seiner Werke verkauft worden. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand ich Liebe für ihn, wie er so dastand wie ein verklemmtes Kind aus seinen eigenen Gemälden. Als der Ober vorbeikam, nahm ich ein volles Glas vom Tablett und reichte es ihm. Dabei spritzten mir ein paar Tropfen auf sein Jackett. «Entschuldige», sagte mein Vater leise. «Entschuldige.»
«Nein, ich muss mich entschuldigen», sagte ich. Er senkte den Blick, während ich mit einer Serviette sein Revers abtupfte.
Es kostete mich Überwindung, so nah bei ihm zu stehen. Ihm körperlich derart nahezukommen. Ich konnte sein Aftershave riechen, sah die Schatten seiner Bartstoppeln. Mir wurde übel.
Draußen war es eiskalt. Matteo begleitete mich bis zu unserem Haus, wo er sein Fahrrad abgestellt hatte. Mein Kopf war leer, in meinem Inneren rumorte es. An der Ecke zu unserer Straße erbrach ich mich in den Straßengraben.
«Tja», meinte Matteo, der geduldig abwartete, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, «du trinkst das Zeug als wär’s Limonade, aber es ist und bleibt Alkohol.»
Ich verriegelte meine Zimmertür, schlüpfte in meinen warmen Pyjama. Der Gummizug spannte um meine Hüften, weshalb fast ein neuer Schwall in mir hochgekommen wäre. Bibbernd kroch ich unter die Bettdecke und legte die Hände auf meinen Bauch. Da gab es nichts mehr zu leugnen. Doch allein der Gedanke daran erfüllte mich mit derartigem Entsetzen, dass ich ihn auf der Stelle wieder verdrängte. Das passierte ganz automatisch, und das mehrmals am Tag. Wissen – leugnen – wissen – leugnen.
Ich redete mir selbst ein, ich sei noch immer ein flachbäuchiges Mädchen mit ein wenig zu klein geratenen Brüsten und knochigen Hüften. Selbst halb nackt vor dem Spiegel stehend, vis-à-vis mit meinem immer fülliger werdenden Körper, konnte ich mir das vorgaukeln.
Auch an jenem Abend verleugnete ich wieder die Bewegungen und Geräusche in meinem Innersten und fiel wie ein Stein in den Schlaf. Am folgenden Tag lachte ich zusammen mit Matteo, dem ich Schuldgefühle über meine Entgleisung vortäuschte. Er versprach, in Zukunft darüber zu wachen, dass ich auf Empfängen nur noch Orangensaft trank oder Wasser.
Drei Wochen später, es war Weihnachten, saß die Geisha an unserem – von ihr – festlich gedeckten Tisch. DerBaum stand in einer anderen
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