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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Broeckhoven
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Geisha.
    «Ist das deine Mutter?», erkundigte sich Matteo.
    «Nein!», rief ich. «Meine Mutter war mollig, mit rosigen Wangen. Einfach schön. Diese Person kenne ich nicht.»
    Mein Vater schwieg mit gesenktem Blick.
    Ich begleitete Matteo zur Tür und ging mit ihm bis zur Straßenecke. Er bedankte sich ausgiebig für das Buch, meine Erläuterungen und die Gastfreundschaft. So viel gutes Benehmen brachte mich zum Lachen. Dann sagte er, er wolle mir noch etwas gestehen. Damit es keine Missverständnisse gebe.
    «Es ist nämlich so», begann er, «dass ich wirklich gern dein Freund sein möchte. Gleich am ersten Tag habe ich so was gespürt, so etwas … Wenn das nicht so tuntig klingen würde, würde ich sagen: Verbundenheit! Wir zwei sind anders als der Rest der Klasse, und nicht bloß, weil wir die Neuen sind. Wir beide sind Halbwaisen, also Schicksalsgenossen! Aber ich selbst bin noch ein wenig mehr anders als bloß anders, falls du verstehst, was ich meine. Daher hoffe ich, dass du dir nicht zu viele Hoffnungen auf etwas machst, was nicht sein kann.»
    Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er mir nach dieser mysteriösen Einleitung sagen wollte. Vermutlich machte ich einen hilflosen Eindruck.
    «Du sollst wissen», fuhr er fort, «dass ich ein Anhänger der griechischen Kultur bin. Dassich auf Jungs stehe. Dass ich homosexuell bin. Mehr Begriffe kenne ich dafür noch nicht.»
    Als ich die Augen aufriss, weil ich es nicht fassen konnten – ich hatte noch nie jemanden so etwas sagen hören, geschweige denn, über sich selbst –, bekam er einen Lachanfall.
    «Es tut nicht weh und ist auch nicht ansteckend, falls dich das beruhigt.» Er legte seine sanfte Hand auf meinen Arm.
    Zum ersten Mal seit Langem verspürte ich so etwas wie Glück. Kleines, fassbares Glück. Ich sagte, ich fände das klasse, was ich auch so meinte. Ich hatte einen Freund, der nichts von mir wollen würde, was ich nicht wollte und auch nicht konnte.
    «Matteo, das sind tolle Neuigkeiten!» Ich gab ihm spontan einen Kuss auf seine flaumige Wange. Er lief bis zum Haaransatz rot an.
    Genau in dem Moment fuhren drei Mädchen aus unserer Klasse auf ihren Rädern vorbei, darunter meine ehemals beste Freundin. Sie riefen uns hinterher und gurrten wie Turteltauben. Erwischt!
    Am darauffolgenden Montag pfiffen es schon die Spatzen von den Dächern: Die beiden Neuen gehen miteinander. Matteo steht auf den französischen Schlaukopf. Schaut, wie sie strahlt! Seht nur, wie er nach ihr giert!
    «Prima», fand Matteo, «besser so, als dass sie mich ‹schwule Sau› nennen. Ich tue zwar cool, aber ich bin’s nicht immer.»
    Um die Gerüchte am Leben zu halten, spazierten wir sogar manchmal Hand in Hand zum Schultor hinaus. Wir übten regelmäßig Französischvokabeln im Haus meines Vaters und führten gute Gespräche miteinander. Trotzdem vertraute ich ihm nicht alle meine Geheimnisse an.
    Papa sagte mit verschlossener Miene, es freue ihn, dass ich verliebt sei. Es würde mir guttun. Ich sei schließlich im entsprechenden Alter. Er malte ein Bild von uns beiden, das er mir nach der Ausstellung schenkte. Viele Jahre später habe ich es an Matteo als Souvenir weiterverschenkt. Das war kurz bevor er nach New York zog.

ACHTE STATION:
J. begegnet den weinenden Frauen.
    Oma Gleis liefen die Tränen. Langsam drehte sich ihr grauer Kopf von links nach rechts, dann trocknete sie sich das Gesicht mit einem von Opas Taschentüchern. Ihr Kummer war zu groß für ein Damentaschentuch oder gar ein Tissue. Wir saßen im Kreis um sie herum: Papa, Tante Hilda, die Gemeindeschwester, eine Unbekannte und ich.
    «Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen», sagte die Schwester. Das fand ich nicht gerade feinfühlig ausgedrückt.
    «Es ist einfach nicht mehr zu verantworten. Auch wenn sich Ihre Enkelin noch so sehr bemüht und trotz aller Hilfe», fuhr die Unbekannte fort.
    «Sie werden sich dort gut um dich kümmern, Mutter», sagte Tante Hilda mit belegter Stimme. «Wir lassen dich auch ganz bestimmt nicht im Stich.»
    Mein Vater sagte keinen Ton. Ich bemerkte, wie das blaue Flüsschen auf seiner Stirn anschwoll.
    Es war Mitte November, der Winter stand vor der Tür. Für Oma war es nicht mehr sicher, so oft allein zu Hause zu sein. Sie stellte die Gasöfen glühend heiß oder schaltete sie erst gar nicht ein und saß dann die halbe Nacht unterkühlt in ihrem Sessel, ohne irgendein Zeitgefühl, während ich ahnungslos oben schlief. Sie verbrannte sich ander Gasflamme des

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