Kreuzweg
Liebhaber darin verbarg.
«Wer weiß, wer weiß?», speiste ich ihn ab.
Manchmal gab ich ihm Französischnachhilfe im Haus meines Vaters, das unter dem Einfluss der Geisha immer weniger mein Zuhause wurde. Sie achtete zwar darauf, mich nicht zu bemuttern, aber der Geist meiner Mutter wurde mit der Zeit immer dünner, durchsichtiger.
Matteo und ich saßen jedes Mal in der Küche, wo wir uns unterhielten oder schwiegen, je nachdem. Ich wärmte mich an seiner Gesellschaft. Er war mir ein echter Freund, einer, der keine Bedingungen oder Forderungen stellte.
Den Anspielungen meines Vater entnahm ich, dass er überzeugt war, ich würde «meinen Freund» insgeheim in Omas Haus empfangen. Er legte mir keine Steine in den Weg. Er sei schließlich auch mal jung gewesen. «Und manchmal bin ich es heute noch», sagte er, während er und die Geisha neckische Blicke austauschten. Wenn ich schon meinen Kopf durchsetzen wolle und lieber dort sei als hier, solle ich eben tun, was ich nicht lassen könne. Wer weiß, vielleicht war es für die Außenwelt gar nicht schlecht, dass Omas Haus bewohnt war. Oder zumindest den Anschein erweckte. Erst im nächsten Sommer würde es für den Verkauf hergerichtet werden.
Ich führte mein Doppelleben mit Verve. Tagsüber in der Schule, am Wochenende im Haus meines Vaters, ansonsten in Oma Gleis’ Haus, das mehr auf mich achtgab als ich auf es. Die Kleidungsstücke meiner Mutter stapelte ich ordentlich in den leer geräumten Schränken. Meine eigenen Kleider legte ich in den Kabinenkoffer auf dem Treppenabsatz. Vorübergehend. Bis auf Weiteres. Nichts passte mir mehr, alles war zu eng: Reißverschlüsse platzten, Knöpfe sprangen ab – es klang wie die Töne einer Geige. Nur meine eigenen Socken und Schuhe trug ich noch. Und die Schals, von denen ich seinerzeit ein paar Dutzend besaß. Ich hüllte mich in Mamas weite selbst gestricktePullover. In ihren Röcken und Hosen hatte mein Körper wieder Platz. Alles an mir war rundlicher, voller geworden, sogar meine Wangen. Wenn ich voller Entsetzen in den Spiegel von Omas Wäscheschank sah, blickte mir manchmal meine Mutter entgegen. Ich erkannte etwas von ihrer warmen Molligkeit wieder. Es war, als habe sie sich unter meiner straffen Haut eingenistet.
Meine Tante und eine Nachbarin schlugen in derselben Woche die Hand vor den Mund, als sie mich sahen.
«Ich dachte gerade wahrhaftig, deine Mutter stünde vor mir», sagte die eine, «Du bist in kurzer Zeit das genaue Ebenbild deiner Mutter geworden!» die andere. Dass sie sie sahen, anstatt mich, war meine Rettung. So stellte niemand unangenehme Fragen. Alle verstanden, dass ich Trost im Essen und Naschen suchte. Keiner wunderte sich darüber, dass ich die Kleider meiner Mutter trug, um die ich trauerte. Man hielt es für eine Phase meines Trauerprozesses. Der Kummer und der Schmerz um meinen Verlust würden allmählich nachlassen, behaupteten alle. Eines Tages würde mir das Leben wieder entgegenlachen. Und ich könnte aus vollem Herzen zurücklachen. Solche Vorhersagen bekam ich in allen möglichen Varianten mehrmals pro Woche zu hören.
An einem Samstag im sonst recht ereignislosen Januar radelte ich, wie üblich, zum Haus meines Vaters mit einer Tasche voller Schmutzwäsche. Während ich vor der Waschmaschine kniete, stand er auf einmal hinter mir. Ob wir kurz miteinander reden könnten? Mühsam richtete ich mich auf. Ich spürte seinen Blick über meinen Körperwandern. Hatte ich etwas zugenommen oder bildete er sich das nur ein? Jedenfalls sähe ich Mama von Tag zu Tag ähnlicher, vor allem, da ich jetzt so oft ihre Pullover trug. Ich wartete das einsetzende Brummen der Maschine ab, bevor ich ihm in die Küche folgte. Er war beim Friseur gewesen, das sah ich an seinem Hinterkopf. Auch sein Pullover, hellblau wie der Sommerhimmel, war neu. Ich kannte ihn bisher nur in Erdtönen und Tarnfarben. Er hatte gerade die Kaffeemaschine angemacht und bat mich, einen Augenblick Platz zu nehmen, als sei ich ein Gast.
«Der Mensch ist nicht zum Alleinsein geboren. Das weißt du ja inzwischen selbst», fiel er mit der Tür ins Haus. «Das gilt für einen Mann vermutlich sogar noch mehr als für eine Frau. Vielleicht findest du es ja zu früh, und es wird sicher Gerede geben, aber Ina und ich haben beschlossen zusammenzuziehen. Sie wird ab nächstem Monat ihr Appartement vermieten und hier einziehen.»
Eine ausgemachte Sache.
Die Geisha hieß also Ina. Auch wenn sie keine Ersatzmutter für mich sein
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