Kreuzweg
ihm reden. Über alles, was mir in den Sinn käme. Es ist nie so weit gekommen.
Im Zug auf dem Weg ins Krankenhaus hatte ich, mit dem Kalender auf dem Schoß, eine schnelle Berechnung aufgestellt: Wenn er heute oder morgen stürbe, fände das Begräbnis am Samstag statt. Das würde bedeuten, ich würdenur vier kostbare Tage verlieren. Für die laufenden Angelegenheiten könnte ich später noch vorbeikommen, wenn es etwas ruhiger geworden wäre.
Doch mein Vater starb nicht. Nach sechs Wochen Krankenhausaufenthalt hatte sich sein Zustand so weit gebessert, dass er wieder nach Hause konnte. Ich legte seine Schlafanzüge, Unterwäsche und Handtücher zusammen und steckte alles in ein Köfferchen. Ich war es, die ihn unterhakte und langsam zum Taxistand führte, ihm unterwegs mit einem Papiertuch den Schweiß von der Stirn tupfte und ihm beruhigend zuredete. Wenn man ihn entließ, bedeutete das, der Arzt vertraute darauf, dass er fit genug sei. Es würde schon nichts passieren. Außerdem wäre ich ja bei ihm, seine Tochter.
Im Taxi weinte er still. Als ich ihm die Hand aufs Knie legte, spürte ich durch den Stoff seiner altmodischen Hose hindurch, wie gebrechlich er war. Gleichzeitig tauchte blitzartig ein Bild von früher auf: zwei muskulöse, behaarte Männerbeine. Ein zwingender, trüber Blick. Ich verdrängte das Bild mit aller Kraft.
Ich erklärte ihm, ich würde eine Zeit lang bei ihm wohnen. Bis wir etwas arrangiert hätten. Meine Ausstellung müsse dann eben verschoben werden. Notfalls könne ich für einen Tag nach Paris – hin und zurück. Solche Sachen passierten eben.
Meinen fünfzigsten Geburtstag könnten wir auch zu Hause feiern, in seinem Haus. Nur wir beide. Ich könnte ihn ja später mit meinen französischen Freunden und den Compagnons aus der Kunstszene nachholen. Schließlichgab es ja weder Ehepartner noch irgendwelche Kinder, die auf mich warteten.
Mein Vater nickte brav, wiederholte ein paarmal, es täte ihm leid. Dann hielten wir vor dem Haus und ich musste mich kräftig anstrengen, um ihn zu seinem Sessel zu begleiten. Einen Fuß vor den anderen ging es vorwärts. Dabei keuchte er. Die viertelstündige Autofahrt hatte ihn völlig erschöpft.
Drei Monate habe ich ihn versorgt, ein ganzes Frühjahr lang. Es fiel mir nicht so schwer, wie ich angenommen hatte. Er war nicht mehr der Vater von damals, sondern ein zerbrechlicher, erschöpfter Mann. Manchmal weinte er und bat mich inständig um Vergebung für eine ellenlange Liste väterlicher Fehler, an die ich mich meistens überhaupt nicht mehr erinnerte. Vom einst so autoritären Schuldirektor war nichts mehr übrig. Er legte sein Leben in meine Hände und tat das mit solch einer Demut, dass es schon an Unterwürfigkeit grenzte. Je gebrechlicher er wurde, umso mehr wuchs mein Mitleid mit ihm, umso geringer wurde meine Wut.
Er habe keine Menschenseele mehr auf der Welt, außer mir, seinem einzigen Kind, wiederholte er fortwährend.
In seinem Kopf geisterten immer wieder seltsame Schatten herum. Er verwechselte mich oft mit meiner Mutter, sogar mit Oma Gleis. Die Geisha, die ihn vor Jahren verlassen hatte, war wie aus seinem Gedächtnis gelöscht. «Ich kann nicht mehr», schrieb sie mir seinerzeit. «Das Leben mit deinem Vater hat mich ausgehöhlt.» Erhat mir gegenüber nie ein Wort darüber verloren, und ich habe ihn nie danach gefragt. Ich hatte andere Sorgen als sein Liebesleben.
Ich kochte ihm seine Lieblingsgerichte, stopfte mit abgewandtem Blick seine Wäsche in die Waschmaschine, schüttelte ihm die Kissen auf und las ihm manchmal einen Zeitungsartikel vor. Eines weigerte ich mich jedoch zu tun: ihm beim Waschen behilflich zu sein. Das übernahm eine häusliche Krankenpflegerin jeden zweiten Tag. Ich schrak davor zurück, seinen alten Körper, die schlaffe Haut anfassen zu müssen. Seine Nacktheit war mir unerträglich. Wenn die Schwester mit ihrer Wanne sowie zwei Waschlappen – einen für oben und einen für unten – zugange war, ging ich inzwischen in den Garten oder zog mich in die Küche zurück.
«Eine Frau von Welt aus Paris, die prüde davonläuft, wenn ihr alter Vater im Adamskostüm dasitzt … Wer hätte das gedacht?», frotzelte sie beim anschließenden Kaffee und lachte dabei über ihren eigenen Scherz. Mein Vater lachte herzhaft mit: Adamskostüm! Dieses Wort gefiel ihm. Er liebte schöne Wörter. Niemand würde es heutzutage noch benutzen. Jetzt nannte man das Nudisten – oder Anhänger der Freikörperkultur, sagte
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