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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Broeckhoven
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meiner Au-pair-Familie ein, die auf dem Boulevard Saint-Germain wohnte. Ein Paar Tage später schrieb ich mich für den Abendkurs an der
Académie des Beaux-Arts
ein.
    Ganze drei Monate kümmerte ich mich täglich um den kleinen Benoît. Wie ein Hund schnüffelte ich in den zarten Fältchen seines Halses, atmete seinen süßen Atem ein, erstickte meine Tränen in seinem flaumigen Babyhaar. Ich nahm ihn oft mit in mein Bett, spürte, wie gut sein Körperchen in die Leere meines eigenen Körpers passte. Ich streichelte seinen kleinen Rücken, konnte mich nicht satt riechen an dem Geruch von frischem Brot und feuchtem Gras. Bis Madame Blancpain eines Abends in lachendem Ton zu mir sagte, ich würde ihren kleinen Liebling ja noch ersticken mit meinen Liebkosungen. Ich solle ihm doch bitte ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit gönnen. Da kamen mir die Tränen, und sie überhäufte mich mit Entschuldigungen. «So habe ich es nicht gemeint,
ma petite
», sagte sie und schlang die Arme um mich, als sei ich ihre Tochter. «Du bist so schrecklich lieb zu Benoît und so besorgt», beschwichtigte sie. «Eben wie eine richtige kleine Mutter, aber ich finde es trotzdem besser, wenn er in seinem eigenen Bettchen schläft.»
    Gleich am nächsten Tag habe ich mir eine neue Stelle gesucht. Ich arbeitete als Aushilfe in einer Bäckerei und fand ein Zimmer in der vierten Etage eines Hauses ganz in der Nähe der Akademie. Von Benoît habe ich mich nicht verabschiedet, allerdings schon von seinen Eltern, die fanden, ich verhielte mich wie ein Fräulein Rühr-mich-nicht-an.
Mademoiselle Nitouche
. Derart leicht gekränkt, nur wegen einer einzigen Bemerkung! Wir wollten doch schließlich alle nur das Beste für den Kleinen, nicht wahr?
    Meinen Umzug in das möblierte Zimmer erledigte ich mit der Metro in weniger als einer halben Stunde. Ein Koffer und ein Rucksack waren mein einziges Gepäck. Darin befanden sich neue Röcke, Blusen und Hosen in Größe 36, baumwollene Mädchenunterwäsche, vereinzelt mit einer frivolen Spitze, mein Abiturzeugnis, der braune Umschlag mit dem Zeitungsausschnitt, die Strickjacke meiner Mutter sowie ein eingerahmtes Foto von ihr, eine hippieartige Perlenkette mit dazugehörigem Armband in einer kleinen Dose, auf der in Kalligrafieschrift mein Name geschrieben stand – ein selbst gemachtes Geschenk von Matteo. Seine Adresse hatte ich in ein schwarzes Notizbüchlein geschrieben, dazu die von Schwester Bénédicte und dem
Institut der la Vierge Marie pour jeunes filles,
von Marique und von Frau Mortelmans, genannt «Mops».
    In den ersten Jahren habe ich mich bei niemandem gemeldet. Ich wollte in Vergessenheit geraten, mich selbst beseitigen. Nur Oma Gleis vergaß ich nicht. Ihr schickte ich regelmäßig Ansichtskarten vom Eiffelturm oder dem Arc de Triomphe, auf der Rückseite ein paar spärliche Worte. Dass es mir gut ging. Dass sie mir fehlte. Das war keine leere Floskel: Sie war tatsächlich der einzige Mensch, der mir fehlte. Dass meine Entscheidung richtig gewesen war. Dass die Malerei meine Leidenschaft war. Die Altenpflegerinnenhatten keine Zeit, ellenlange Ergüsse vorzulesen, und meinem Vater gönnte ich das Privileg nicht, ihr die Briefe, die ich Oma hätte schreiben können, vorzulesen.
    Ein Mal pro Monat rief ich ihn an. Alles gut, ja. Bei euch auch. Viel zu tun. Schönes Wetter für diese Jahreszeit. Oder eben recht feucht.
    Fast drei Jahre lebte ich bereits in Paris, als ich zum ersten Mal wieder heimfuhr und zwei Nächte nacheinander in dem Mädchenzimmer schlief, das mir nie vertraut geworden war. Oma Gleis war friedlich gestorben. Auf ihrem Begräbnis wurde, auf meine Bitte hin, Pergolesis
Stabat Mater
gespielt. Genau wie bei der Beerdigung meiner Mutter fühlte es sich an, als massiere mir jemand mit sanften Fingerspitzen die Musik regelrecht in die Kopfhaut ein.
    Mein Vater – alt, grau und ein wenig kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, sagte am Kaffeetisch, ich sei ja eine richtige
Parisienne
geworden. So hübsch, so elegant, wie eine richtige Künstlerin! Er sagte es einen Tick zu laut und zu flapsig, mit einem Zwinkern in Richtung der anderen Gäste.
    «
Tais-toi
!» Ich schnauzte ihn an, den Mund zu halten. Er erstarrte. Die Geisha blickte perplex von einem zum anderen. Sie fand, mit gespieltem Lächeln, Paris sei mir anscheinend zu Kopf gestiegen. So schnippisch zum eigenen Vater …
    Kurz darauf schrieb ich Schwester Bénédicte einen Brief. Hätte ich damals eine Antwort erhalten,

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