Kreuzzug
Zugspitzbahn , 12 Uhr 20
I m Zug herrschte Chaos. Nur wenige Augenblicke nach der zweiten Detonation waren die ersten Fahrgäste aus der Lethargie erwacht und aktiv geworden. Allerdings war diese Aktivität weder koordiniert noch bedacht. Sie wollten nichts wie raus aus den Waggons. Raus aus der Röhre. Wer konnte schon sagen, was als Nächstes geschah. Der Tunnel war vor und hinter ihnen eingestürzt, ob auf natürliche Weise oder durch gezielt verursachte Explosionen, darüber machte sich niemand Gedanken.
An jeder Waggontür machten sich Männer zu schaffen, rüttelten daran und versuchten, den Notöffnungsmechanismus in Gang zu bringen. Dabei behinderten sie sich allerdings gegenseitig.
Im hinteren Triebwagen, in dem Thien Hung Baumgartner saß, griff sich ein Fahrgast den roten Nothammer aus der Halterung zwischen zwei Fenstern und schlug damit eine Scheibe ein. Wieder schrien einige Frauen.
Der Tumult im Waggon wurde durch ein weiteres Horrorgeräusch unterbrochen, das alle Insassen aus ungezählten Filmen kannten. Das »Ratatata« einer automatischen Waffe schnitt den Lärm im Wagen jäh ab. Ein Mann, der weiter vorne gesessen war, hatte aus seinem Rucksack eine kleine Maschinenpistole gezogen und war aufgesprungen. Er feuerte eine zweite Salve in die Waggondecke. Thien hörte auch im vorderen Wagen Schüsse, und er sah das Flackern des Mündungsfeuers.
Es war vollkommen still. Die Männer an den Türen waren in die Knie gegangen oder hatten sich zwischen die anderen Passagiere geworfen. In Thiens Nase mischte sich der Geruch des Schießpulvers mit dem von Urin. Der dickliche Snowboarder neben ihm hatte nicht mehr an sich halten können. Thien war sicher, dass er damit nicht allein war.
Der Mann mit der Maschinenpistole trug die zur Situation in zweifacher Hinsicht passende Skimaske, die nur die Augen freiließ. Wahrscheinlich hatte er sie die ganze Zeit schon aufgehabt, war Thiens erster Gedanke. Klar, denn an welchem anderen Ort der Welt würde diese Maskerade weniger auffallen?
Jetzt stellt sich der Maskierte mit gespreizten Beinen in den Mittelgang des Wagens.
»Keep quiet! This is an operation of the Afghan Liberation Army. You are prisoners of war. You will be shot, if you will not obey our orders.«
Die Passagiere kauerten sich auf ihre Plätze und versuchten nach besten Kräften, nichts zu tun, was die Aufmerksamkeit des bewaffneten Mannes auf sie lenken könnte. Für einige waren die Erlebnisse der letzten Minuten einfach zu viel. Sie schluchzten haltlos vor sich hin. In den Köpfen der älteren Insassen mischten sich die Bilder von diversen Grubenunglücken, dem Brand der Standseilbahn in Kaprun und die Bilder der Landshut, der 1977 von palästinensischen Luftpiraten entführten Lufthansa-Maschine, zu einem Horrorszenario der in den nächsten Stunden bevorstehenden Ereignisse. Oder würden es Tage werden? Wer wusste, was diese Irren vorhatten.
Plötzlich stand ein zweiter Mann direkt neben Thien und dem Snowboarder. Auch er hielt eine MPi in den Händen. Thien hatte ihn die ganze Fahrt über nicht bemerkt, obwohl er direkt neben ihm auf der anderen Seite des Mittelganges gesessen hatte. Er trug wie der Mann im vorderen Teil des Waggons eine Tarnhose mit Winter-Camouflage-Muster und einen schmutzig weißen Anorak. Auch dieser Aufzug war niemandem aufgefallen, denn die aktuelle Snowboarder-Mode nahm sehr gern Anleihen aus der Welt des Militärs.
Kapitel zwölf
Zugspitzbahnhof Eibsee , 13 Uhr 25
F ranz Hellweger stand breitbeinig in seinem Führerstand und blickte abwechselnd den Berg hinauf und hinüber zu den Hallen des Depots, wo die Männer mittlerweile eine alte Rangierlok mit einem Gerätewagen für den Einsatz fertig machten. Sie hatten auf dem flachen Transportwagen alles verstaut, was man einsetzen konnte, um Felsen aus dem Weg zu schaffen: Presslufthämmer mitsamt Kompressoren, Seilzüge und auch eine erste kleine Ladung Dynamit; an größere Mengen war nur über den Sprengmeister des Landkreises zu kommen, und der war seit einer halben Stunde weder zu Hause noch auf seinem Mobiltelefon zu erreichen.
Der Transportwaggon wurde an die Rangierlok gekuppelt. Und an ihn kuppelte man wiederum einen Waggon mit einem festgezurrten mittelgroßen Bagger. Normalerweise war der nur bei Arbeiten am Gleisbett im Einsatz, das letzte Mal im Sommer bei den Instandsetzungsarbeiten. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn aus der hintersten Ecke der Wagenhalle ins Freie gezogen hatten. Zunächst
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