Kreuzzug
zur Sicherheit einen weiteren Haken in die Wand schlagen zu dürfen. Aber vielleicht würde der Kerl irgendetwas missverstehen und dann falsch reagieren. Thien wollte das zügige Voranschreiten der Austauschaktion nicht gefährden.
Es kam ihm vor, als würden die Geiselnehmer immer weniger. Neben ihm stand der Kerl, der auf ihn aufpasste. Wenn er aus der Kaverne, die vom Hauptstollen zum Tunnelfenster hin abzweigte, zurück zum Zug schaute, sah er noch den Mann in dem MG -Nest wachsam den Felssturz bewachen, und der vermeintliche Anführer der Truppe wich nicht von Kerstin Dembrowskis Seite.
Sie trug bereits einen kombinierten Sitz- und Brustgurt, und der Terroristenführer schien mit besonderer Freude und auch nicht zum ersten Mal zu überprüfen, ob der auch gut an ihrem Körper saß. Sie ließ es über sich ergehen, aber dass ihr das Getatsche nicht gefiel, war ihr deutlich anzusehen. Thien wäre gern dazwischengegangen. Aber wieder riss er sich zusammen. Sollte er diesem Mann noch einmal im Leben begegnen – vorausgesetzt natürlich, er würde ihn überhaupt wiedererkennen –, würde er ihm eine Abreibung verpassen, die der Kerl nie mehr vergessen würde. Thien war sich sicher, dass es sich um jenen gefühllosen Killer handelte, der am Tag zuvor den Mann im Zug kaltblütig erschossen hatte. Zu gern hätte er ihm mit der Nikon den Schädel eingeschlagen.
Und wieder kamen Zweifel in ihm auf, ob er sich weiterhin zum Handlanger von Terroristen machen sollte. Vielleicht war das nur eine wie auch immer geartete Ablenkungsaktion, und es wäre besser gewesen, er hätte wie geplant mit Craig zusammen zugeschlagen. Die Bande einfach abgeknallt, die ihm das Leben versauen wollte. Ihm und zweihundert anderen. Er wusste, dass er in der Lage war, ein solches Trauma schnell zu verarbeiten, wenn er überhaupt eins davontragen würde. Thien traute sich zu, die Grenzsituation für Seele und Körper, in der er sich seit gestern Mittag befand, einfach abzuschütteln. Wenn er hier herauskam, würde er sich duschen, anständig betrinken, schlafen und dann seine Fotos machen. Er war sicher, dass seine Geschichte als Geisel – und auch als Held – den Wert seiner Fotos dramatisch erhöhen würde. Wenn, ja, wenn er hier nur endlich herauskäme.
Auf Craig und Barbara Hargraves schien niemand besonders zu achten. Sie saßen auf einer Schiene vor dem Zug und harrten der Dinge, die da kamen. Was war mit den beiden Senioren eigentlich los? Dass Craig kein durchschnittlicher Urlauber war, hatte sich Thien schon gedacht. Einer Regierungsorganisation gehörten die beiden an. Oder auch zwei verschiedenen. Soso. War das nun die nationale Gesundheitsbehörde oder die oberste Finanzverwaltung? Von ihrem langweiligen Aussehen her würden sie perfekt in solche Beamtenmühlen passen.
Aber, wie sagten doch die Amis:
Don’t judge a book by its cover.
Vielleicht war alles nur Tarnung. Das biedere Aussehen, die Rosenkranzbeterei der Frau. Der Mann hatte ja bereits zu verstehen gegeben, dass er mit einem Maschinengewehr umgehen konnte. Und vorhin im Zug hatte er kämpfen wollen. War das das amerikanische Draufgängertum, dem sich Thien auch nahe fühlte und das normale Leute dazu brachte, in einem entführten Flugzeug
Let’s roll!
zu rufen und dann über die Terroristen herzufallen? Oder war dieser Mann im Umgang mit derartigen Situationen geschult?
Thien hatte nicht die Gelegenheit gehabt, sich mit den beiden zu unterhalten, seitdem ihn die Geiselnehmer vor einer guten Weile aus dem Zug nach vorn geholt hatten. Wieso war Craig wohl direkt nach vorn gelassen worden? Was hatte er dem Bewacher im Zug gesagt, der ihn eigentlich hinter den Zug zum Wasserlassen hatte bringen wollen? Thien wurde weder aus dem Mann, seiner Frau noch aus den Ereignissen der letzten Stunden schlau.
Wieder drängte sich die Frau im roten Overall in Thiens Gedanken. Wie sie auf einmal aufgetaucht war, gleichsam aus dem Nichts, und wie selbstverständlich sie mit den Terroristen umging. Als wäre es für sie vollkommen alltäglich. Auch für eine Verhandlungsführerin der Bundesregierung war das hier sicherlich keine alltägliche Situation. Man fuhr nicht morgens um halb neun mit der S-Bahn zur Arbeit, beendete eine Geiselnahme durch Terroristen und kehrte abends zu Ehemann, Kindern und Labradorhündin ins Häuschen am Stadtrand zurück, um mit der Frage »Schatz, wie war dein Tag?« begrüßt zu werden. Nein, diese Frau war etwas ganz Besonderes. Thien würde
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