Kreuzzug
Überwindung, sich mit dem Rücken zum Abgrund zu stellen, sich nach hinten zu lehnen, bis ihre Beine annähernd einen Neunzig-Grad-Winkel zum Berg einnahmen, sich dann aus den Knien abzudrücken, die Seilbremse zu lösen und dreißig Meter nach unten zu segeln, bis die Füße wieder den Fels berührten.
So sprang sie rückwärts den Berg hinunter und kam, bereits knapp zwei Minuten nachdem sie sich oben das erste Mal abgestoßen hatte, unten neben dem kreidebleichen und nassgeschwitzten Mainhardt an.
»Die Karte bitte!«, sagte sie zu ihm mit ausdrucksloser Miene. Natürlich hatte sie aus Berlin eine Kurzinfo erhalten, dass ein weiterer Sprengstoffanschlag der Terroristen erfolgt war, weil deren Anweisungen nicht befolgt worden waren.
Mainhardt griff in eine Tasche seines Parkas und fischte die ultraschwarze Unex -Karte hervor. Anscheinend hatte er sich schon ein wenig von seinem Schock und seinem Bergaufsprint erholt, denn er blinzelte Kerstin Dembrowski zu und witzelte: »Diese Karte und wir zwei, Frau Kapitän. So einfach ist das Paradies auf Erden zu erlangen.«
»Paradies für Sie«, gab sie trocken zurück. Sie nahm das Stück Plastik an sich und steckte es in ihre Brusttasche. Dann schaute sie nach oben und winkte mit den Armen.
Die Winsch zog sie innerhalb kurzer Zeit wieder zum Fenster hinauf.
Als sie oben ankam, stand der Anführer der Terrorbande bereits mit ausgestreckter Rechter da. Noch bevor sich Kerstin Dembrowski aus dem Seil ausklinken konnte, musste sie dem Mann die Karte geben.
Der stieß ein gänzlich unislamisches »Carajo!« aus und besah sich die Karte mit glänzenden Augen. Dann holte er ein Satellitentelefon hervor. Es war nicht größer als ein handelsübliches Handy, hatte aber eine dicke Antenne. Die galt es auf einen der Telekommunikationssatelliten auszurichten, sodass sich der Terrorist an den Rand des Felsdurchbruchs stellen musste, damit die Antenne freien Himmel über sich hatte.
Er sah auf das Display. Nach wenigen Sekunden kam die Verbindung zustande. Er drückte eine gespeicherte Nummer, und Kerstin Dembrowski konnte ganz leise hören, wie nach zweimaligem Klingeln am anderen Ende jemand abnahm. Eine Stimme, die wie die geschulte Mitarbeiterin eines amerikanischen Callcenters klang, sagte ihren hyperfreundlichen Begrüßungstext.
»I would like to order ten Humvees in original U.S. Army combat trim. My credit card number is Unex 111122223333212 «, sagte der Mann. Und nach einer Pause: »Yes, of course. Armed and armoured. M 1045 TOW Missile Carrier with Supplement Armor, if you have.«
Am anderen Ende herrschte eine Weile lang Schweigen, dann kam offenbar die Bestätigung über den Kauf von zehn mit Raketenwerfern bewaffneten und gepanzerten Humvee-Militärfahrzeugen.
Mit den Worten »Oh sorry, we need one hundred«, verzehnfachte der Terroristenanführer die außergewöhnliche Autobestellung.
Wieder dauerte es einige Sekunden, dann erschien ein zufriedener Ausdruck in seinen Augen. Mit dieser Karte Kriegsgerät im Wert von rund eineinhalb Millionen Dollar per Telefon zu bestellen war offenbar nicht schwieriger, als eine Ladung Pizza Prosciutto e Funghi für eine Spontanparty zu ordern. Er ließ die Dame am anderen Ende wissen, dass er vielleicht doch nur neunzig der Militärfahrzeuge brauche, und kündigte seinen Rückruf an.
Dann beendete er das Gespräch, steckte das Telefon wieder zurück und besah sich die Karte, die er noch in seiner Linken hielt.
Schließlich hielt er Kapitän zur See Kerstin Dembrowski die Hand hin und sagte: »Thank you.«
Kerstin Dembrowski überlegte nicht lange und ergriff seine Hand. Nach einer Weile meinte er, die ihre lange genügend geschüttelt zu haben, und wollte sie wieder loslassen. Als Kerstin Dembrowski nicht locker ließ, zog er erst mit der Kraft seines rechten Arms, dann stemmte er sein ganzes Körpergewicht nach hinten.
Das war der Moment, auf den sie gewartet hatte. Sie schnappte mit der linken nach der ultraschwarzen Karte, und in dem Moment, da sie das Plastik zwischen ihren Fingern fühlte, ließ sie die Rechte des Mannes los. Der vermeintliche Terroristenanführer war gerade dabei, ein »Carajo!« zu schreien, als er sich mit einem ebensolchen rückwärts aus dem Tunnelfenster katapultierte.
Thien musste nur seine Hand ausstrecken und den Gurt der Maschinenpistole greifen, die der Mann lässig über einer Schulter trug, und eine Zehntelsekunde später gehörte er zu den bestbewaffneten Männern im
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