Kreuzzug
pflügenden Allrad-SUVs. Der Cogito-Konzern warb um ein klein bisschen Verbrauchervertrauen sowie für seine Lebensversicherungspolicen.
Der große Gewinner des Tages war jedoch die Online-Werbung. Die Preise für Banner auf Spiegel-Online und Google-News stiegen innerhalb weniger Minuten ins Unermessliche. Der siebte Januar sollte in die Werbegeschichte später als »Z-Day« eingehen. Am »Zugspitz-Tag« hatten die großen Web-Portale zum ersten Mal den kumulierten Umsatz sämtlicher TV -Sender und Tageszeitungen übertrumpft. Das galt für Deutschland wie für alle anderen Industrieländer.
Rund um den Globus konnten sich die Internetnutzer nicht sattsehen an dem Alpen-Drama, das ihnen live in die Büros und Wohnzimmer gesendet wurde.
Kapitel hunderteinundzwanzig
Reintalhöhle, 14 Uhr 48
S andra Thaler bereute, dass sie ihr Blitzgerät im Auto gelassen hatte. Sie hätte die herrlichsten Bilder von haushohen Felsendomen, Sinterfächern und meterlangen Tropfsteinen machen können, hätte sie brauchbares Licht gehabt. Ihre Stirnlampe erhellte immer nur einen Fleck an den Wänden. Das war für professionelle Fotos absolut unbrauchbar.
Trotzdem fotografierte sie, sooft und so viel sie konnte. Sie wusste, dass sie einer Sensation auf der Spur war. Und dass diese Sensation mit der Geiselnahme auf der Zugspitze zu tun hatte. Dass es eine so große und weitverzweigte Höhle im Massiv unter dem Jubiläumsgrat gab, hatte sie noch nie gelesen oder gehört. Dabei war sie sicher gewesen, dass sie, wenn schon nicht alles über die heimische Bergwelt, so doch sehr vieles darüber wusste. Eine solch gigantische Höhle hätte sie kennen müssen.
Im Schein ihrer Lampe erschienen ihr einige der Durchgänge so, als seien sie erst kürzlich mit Hilfe von Werkzeugen oder Sprengstoff geschaffen worden. Dort lagen auch Steinbrocken lose herum, die nicht mit Schlamm bedeckt waren. Bei manchen Durchgängen stand aber auch eine Art runder flacher Verschlussstein neben dem Durchschlupf, durch den sie sich meist nur mit größter Mühe zwängen konnte, obwohl sie sich bereits der obersten Schicht ihrer Skikleidung entledigt hatte. Hinter solchen Engstellen öffnete sich der Fels meist wieder.
Sie musste tiefe Canyons überwinden und wäre mehr als einmal beinahe in einen unergründlich tiefen Schlund gestürzt, dessen Grund der Schein ihrer Lampe nicht erreichte. Überall war alles nass und mit Schlamm überzogen, dessen Konsistenz sie an die Sedimente erinnerte, die die Isar bei Hochwasser in den Kellern hinterließ: feinster Sand, der sich mit anderen Substanzen, Kalk wahrscheinlich, in jede Fuge, sogar zwischen den Fasern der Kleidung, festsetzte und sich auch nicht so leicht wieder auswaschen ließ.
Es hatte ganz den Anschein, als wäre das Höhlensystem vor kurzem noch überflutet gewesen. In den Vertiefungen und Sinterbecken stand noch Wasser. Doch das meiste war abgeflossen, und seitdem waren Menschen in den Höhlen hin und her geklettert, wie Sandra an den Stiefelabdrücken und Griffspuren erkannte, denen sie folgte.
Dieser Weg führte sie immer weiter in den Berg hinein. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich in südwestlicher Richtung auf das Zugspitzplatt zu bewegte. Der Kompass ihres Smartphones funktionierte nicht. Die virtuelle Nadel auf dem Display drehte sich willkürlich im Kreis, als befände sich ein sehr starkes Magnetfeld in ihrer Nähe. Vielleicht eine Erzader, mutmaßte Sandra.
Aber die Richtung war auch egal, sie würde den Spuren auf jeden Fall folgen. Irgendwo am Ende dieses Tunnels wartete das Bild ihres Lebens auf sie, das sagte ihre innere Stimme.
Sie konnte nicht ahnen, wie recht diese Stimme hatte.
Kapitel hundertzweiundzwanzig
Im Zugspitztunnel , 14 Uhr 55
T hien machte sich nützlich, so gut er konnte. Er war nicht der absolute Kletterspezialist, aber er hatte schon oft genug im Gurtzeug gehangen, um sich an einer besonders ausgesetzten Stelle zu sichern, wenn er die Schussfahrten und weiten Sprünge seiner Freunde für die Steilwand-Webseiten und -Magazine sowie für die Freunde selbst als Foto festgehalten hatte.
Er checkte, ob der Haken gut verankert war, den er auf Geheiß eines der Geiselnehmer am Tunnelfenster in die Wand getrieben hatte. Der Erpresser hatte ihn während der Arbeit nicht aus den Augen gelassen und unablässig die Maschinenpistole auf ihn gerichtet.
Zweihundert Abseilvorgänge an einer Sicherung hatte Thien noch nie gemacht. Er hätte den Terroristen gern darum gebeten,
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