Kreuzzug
www.deutschlandverhandelt.de abgeschickt hatte, blieb der Inhalt der Seite www. 2962 amsl.com unverändert. Die Namen der Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba, Abu Ghuraib im Irak und Bagram in Afghanistan waren die Überschriften auf der ansonsten weißen Seite. Unter jeder dieser Überschriften standen sechzig bis siebzig Namen, insgesamt zweihundert.
Kerstin Dembrowski tippte erneut in den Laptop:
An die Gruppe auf der Zugspitze : Ich möchte mit Ihnen verhandeln. Bitte antworten Sie. Es geht um den Stand der Erfüllung Ihrer Forderungen. Kerstin Dembrowski.
»Wir müssen den Takt vorgeben«, erläuterte sie den umstehenden Männern. »Es bringt sie eher aus dem Konzept, wenn wir früher als erwartet mit ihnen über ihre Forderungen sprechen.«
»Aber die können Sie doch gar nicht erfüllen!«, warf der Pressesprecher des Ministerpräsidenten ein. »Jetzt nicht und später nicht!«
»Darum muss ich die Geiselnehmer ja dazu zwingen, mit mir in Kontakt zu treten. Die wissen selbst, dass ihre Forderung so einfach nicht zu erfüllen ist. Vor allem nicht in diesem vollkommen unrealistischen Zeitrahmen. Sie erwarten, dass wir sie vertrösten, um Zeit zu gewinnen. Jetzt fordern wir sie eine knappe Dreiviertelstunde vor dem Ende des von ihnen gestellten Ultimatums auf, mit uns zu verhandeln. Das wird sie zumindest nachdenklich machen. Ein großes Zugeständnis werden wir ihnen um neun nicht machen können, das ist ihnen damit klar, aber vielleicht ein kleineres.«
Kerstin Dembrowski sagte das mehr zu sich selbst als zu den Umstehenden.
»Es ist jetzt schon nach halb neun«, sagte Zugspitzbahn-Vorstand August Falk in die gebannt auf die Leinwand starrende Runde. »Was machen wir, wenn die in einer halben Stunde wirklich jemanden vor laufender Kamera erschießen?«
»Dann werden wir nichts machen.« Kerstin Dembrowski blickte nicht von ihrem Bildschirm auf. »Sie haben sich entschieden, jeden ihrer Schritte weltweit zu veröffentlichen. Daraus entsteht ein Zugzwang für uns. So ihr Kalkül. Nun können wir dagegenhalten. Die Asymmetrie der Kommunikation ist aufgehoben. Sie setzen sich durch noch mehr Tote immer mehr unter moralischen Druck der Weltöffentlichkeit.«
»Grau, mein Freund, ist alle Theorie«, zitierte August Falk Deutschlands größten Dichter.
»Und grün des Lebens goldner Baum«, retournierte Kerstin Dembrowski prompt. Auch sie hatte die Klassiker gelesen. »Ich sage Ihnen, ich habe diese Strategie schon oft erfolgreich angewandt. Sie wird auch diesmal funktionieren.« Sie löste den Blick vom Bildschirm ihres Laptops und fixierte den fast doppelt so alten Mann über die randlose Brille hinweg, die sie am Computer trug. Mit ihrem zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar verlieh ihr die Sehhilfe das Aussehen einer strengen Lehrerin, das der Zugspitzbahner irgendwie einschüchternd fand.
Sie wandte sich wieder ihrem Laptop zu und starrte erneut auf die Website der Geiselnehmer. Nichts. Sie musste sich sehr anstrengen, nicht mit den Fingern ungeduldig auf die Tischplatte zu trommeln. Sie wollte den Männern, die sie umzingelten, ihre ansteigende Nervosität nicht offen zeigen. Doch nervös zu sein hatte sie jeden Grund. Von ihrem Verhandlungsgeschick hing es ab, ob die Geiselnehmer weitere Menschen töten würden.
Kapitel siebenundsiebzig
Waggon der Zugspitzbahn , 8 Uhr 45
M it einem Mal wurde es hektisch im Zug. In jeden Wagen stiegen drei weitere maskierte Männer mit Maschinenpistolen. Sie nahmen zusammen mit den bereits vorhandenen Bewachern Positionen an allen Türen ein. Ein Mann stellte sich direkt neben Thien und sah ihn an. Er sah alle Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld an, doch immer wieder richtete er seinen Blick auf Thien. Irgendetwas an Thien schien dem Mann zu gefallen. Oder zu missfallen. Thien betete, dass der Kerl nicht bemerkte, dass er seinen Kamerarucksack wieder heimlich geöffnet und unter seinen Kniekehlen bereitgestellt hatte. Vielleicht war er dem Mann ja nur aufgefallen, weil er die einzige Geisel mit asiatischen Gesichtszügen war.
Die Neugierde des Terroristen schien nach einer endlosen Minute abgeklungen, denn er sah wieder in Richtung seiner Komplizen nach vorn. So, wie der Mann neben seiner Sitzbank stand, war Thien hoffnungslos eingekeilt. Ein Feuerstoß aus der MPi würde ihn niederstrecken, noch bevor er ganz aufgesprungen war. Sein Kamerad Craig sah das offenbar genauso. Er blickte Thien eindringlich in die Augen und schüttelte kaum
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