Kreuzzug
das aufgesprengte Tunnelfenster den am Fuß der Westflanke liegenden Eibsee sehen konnte, am unteren rechten Bildrand auch das Hotel, in dem der Krisenstab hockte.
Dann schwenkte die Kamera nach unten, zur Kante des Fensters. Einen Meter davor erkannte man den Haken, an dem das Seil befestigt war. Ebenfalls im Bild waren die Skistiefel eines Terroristen, der neben dem Seil stand. Zwischen den Stiefeln stand mit dem Kopf nach unten eine Axt, die der Mann, der in den Stiefeln steckte, offenbar oben am Stil hielt.
Text brauchten die Entführer zu diesen Bildern nicht zu liefern. Die Botschaft war auf einen Blick zu erkennen: Wenn ihr nicht tut, was wir wollen, schlagen wir das Seil durch.
Dann erschien ein knapper Text auf der Seite.
EINER GEGEN EINEN!
Sonst nichts.
Kerstin Dembrowski wusste, dass Millionen von Internetnutzern und Fernsehzuschauern gespannt darauf warteten, was sie als Antwort in die Tastatur tippen würde.
Die meisten Menschen rechneten sehr wahrscheinlich mit einer hinauszögernden Erklärung, warum man noch niemanden freilassen konnte, dass man dafür viel mehr Zeit benötigte, dass man aber bereit sei, zu verhandeln …
Kerstin Dembrowski hatte Anweisung, genau so etwas zu schreiben, um Zeit zu schinden. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass auch die Terroristen nur auf derlei Ausflüchte warteten, um dann sofort mit einem Hieb der Axt klarzumachen, dass mit ihnen solche Spielchen nicht zu treiben waren. Danach wäre man erst recht unter Zugzwang. Die Terroristen würden in regelmäßigen Abständen das grausame Spiel wiederholen. So lange, bis … Ja, wie lange eigentlich? Bis der amerikanische Präsident seinen Entschluss widerrufen würde, keine Extremisten freizulassen? Würde er sich vor der gesamten Welt von Terroristen erpressen lassen?
Nein, das würde er niemals tun. Sie würden Stunde um Stunde eine tote Geisel aus dem Geröllfeld bergen. Sofern die Terroristen es zuließen, dass sich jemand der Westflanke näherte.
Kerstin Dembrowski hatte die letzten Stunden, versunken vor dem Bildschirm ihres Laptops, damit zugebracht, sich eine komplett andere Strategie zurechtzulegen, die sie eigentlich als Plan B hatte einsetzen wollen. In Anbetracht der Kaltblütigkeit und der an Sadismus grenzenden Brutalität der Entführer machte sie diese Verhandlungsstrategie nun zu ihrem Plan A.
Sie tippte in ihren Laptop eine Botschaft, mit der niemand gerechnet hatte, auch nicht ihre Vorgesetzten:
200 GEGEN 200 !
Mit diesem Angebot änderte sie die Spielregeln grundlegend. Das war die große Chance ihres Vorgehens. Und das große Risiko. Es hätte sie nicht gewundert, wenn zwei Sekunden nachdem der Satz im Internet stand, die Geisel, die dort am Seil hing, in die Tiefe gestürzt wäre. Doch zunächst passierte nichts.
Ihr Angebot war ein trojanisches Pferd. Denn es beinhaltete zunächst die Erfüllung der Maximalforderung der Terroristen. Sie konnten durch die Annahme des Angebots sofort an das Ziel ihrer Bemühungen gelangen. Auf der anderen Seite mussten auch sie ihre Geiseln am Leben lassen. Sie könnten sie nicht eine nach der anderen ermorden, denn dann ging die Gleichung nicht mehr auf.
Der wichtigste taktische Vorteil lag allerdings darin, dass die Freilassung von zweihundert Gefangenen aus drei amerikanischen Gefangenenlagern logischerweise einen größeren logistischen Aufwand bedeutete. Das war nun wirklich nicht innerhalb weniger Stunden hinzukriegen. Flugzeuge müssten beschafft werden, Landegenehmigungen in Drittländern und so weiter. Vierundzwanzig Stunden wären dafür mindestens einzuplanen.
Vierundzwanzig Stunden mehr Zeit, um eine Erstürmung des Tunnels vorzubereiten. Oder die Fluchtwege der Entführer zu blockieren. Oder irgendetwas zu tun, was die Bundesrepublik Deutschland, ihren Militär- und Polizeiapparat und ihre Geheimdienste nicht als vollkommene Amateure aussehen ließ.
Immer noch passierte nichts. Der bunte Fleck hing weiterhin unter dem Felsfenster. Auch auf dem Bildschirm mit der Webseite der Entführer erschien keine neue Nachricht.
Kapitel dreiundachtzig
Waggon der Zugspitzbahn , 9 Uhr 27
T hien konnte die Situation nicht einschätzen. Eine geraume Zeit war vergangen, seit sie den dicklichen Snowboarder weggeführt hatten. Einer der Terroristen stand immer noch beinahe unbeweglich neben Thien, und die Mündung der MPi war nur wenige Zentimeter von Thiens Schläfe entfernt. Den Zeigefinger hielt der Geiselnehmer ausgestreckt neben dem Abzug.
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