Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
gelegenen Verlagsräumen auf und frage, ob mein Bruder aufgetaucht sei, doch keiner der dort Versammelten hat ihn gesehen. Anrufen kann ich ihn nicht, denn Internet und Mobilfunknetz sind auf Befehl Mubaraks gekappt, um die Kommunikation unter den Demonstranten zu erschweren. Mir schwant Übles. Jetzt spüre ich auch starke Schmerzen im Finger. Ich möchte im Büro schlafen, um in der Nähe des Tahrir-Platzes zu bleiben, doch mein Verleger kann den Gestank des Gases nicht mehr ertragen und nimmt mich mit in sein Haus im südlichen Stadtviertel Maadi. Bei dieser Fahrt sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben vollkommen leere Straßen in Kairo. Doch überall gellen Schüsse durch die Nacht. Im Bett liege ich lange wach. Gedanken, Bilder und Gefühle überfluten mich. Glück. Sorge. Stolz. Schmerz. Und eine große Hoffnung. What a Diff’rence a Day Made! Dieser Freitag wird in die Geschichte Ägyptens eingehen.
Samstag, der 29. Januar 2011
Schon am frühen Morgen eile ich wieder zum Tahrir-Platz. Überall in den Straßen Spuren der Verwüstung. Zerstörte Banken, Geschäftshäuser und Polizeistationen. Noch immer peitschen Schüsse durch die Luft. Nirgendwo ein Polizist zu sehen. Den Verkehr regeln Freiwillige in Zivil. Auf dem Tahrir-Platz ein Bild des Friedens. Viele Demonstranten haben die Nacht dort verbracht. Die Soldaten, die in der Wüste stationiert sind und kaum Kontakt zur Bevölkerung haben, werden umarmt. Das Volk, das gestern einen der größten Sicherheitsapparate der Welt nur mit seiner Gegenwart und dem Ruf nach Freiheit stürzte, steckt heute buchstäblich Blumen in die Geschützrohre der Armee. Die Soldaten und ihre Panzer wirken gezähmt. Gegen das Volk, das sie bejubelt, werden sie wohl nichts unternehmen. Ich sehe übrigens nur einfache Soldaten, keine hohen Offiziere. Die halten sich im Hintergrund. Demonstranten schreiben »Nieder mit Mubarak« auf die Panzer. Der große Pharao hat sein Zepter verloren. Gestern hatte er noch in einer Rede eine Kabinettsumbildung und große Reformen angekündigt, doch das haben die Demonstranten nur gleichgültig zur Kenntnis genommen. Einer schrieb auf einem Plakat »Was du in dreißig Jahren nicht schafftest, schaffst du heute nicht mehr. Weg mit dir!« Auch die Ausgangssperre respektierte keiner.
Die Plünderungen gehen weiter. Offenbar kommt es in allen Teilen Ägyptens zu solchen Ausschreitungen. Sie laufen immer nach demselben Schema ab. Erst tauchen Berufskriminelle auf, die mit Pistolen und Gewehren in die Luft feuern. Die erschreckten Anwohner fliehen. Dann folgen andere mit Messern und Schwertern, die Geschäfte, Banken und Institutionen plündern. Mir ist sofort klar, dass das organisiert ist. Gleichzeitig hören wir, dass Gefängnisinsassen in Massen ausbrechen. Wer lässt diese Leute raus? Mir scheint das ein riskantes Kalkül der geschlagenen Polizei zu sein. Sie setzt auf Chaos. Ich erlebe eine staatliche Inszenierung. Gestern Abend brannten viele Polizeiwagen – aber wie soll man die mit Essig und Coca-Cola in Brand setzen? Die meisten Polizeistationen von Kairo wurden niedergebrannt. Polizisten in Zivil wurden dabei ertappt, wie sie Brände legten. Schläger, Plünderer und Polizisten arbeiten zusammen, es gibt ja auch viel Geld zu verteilen.
Kairo ist nicht wiederzuerkennen. Ich gehe durch eine Stadt, in der es keine Polizei gibt. Trotz des Chaos vom Vorabend sehe ich vieles, was mir Hoffnung macht. Überall werden die Straßen gesäubert. Vor vielen Banken und staatlichen Einrichtungen patrouillieren Bürgerwehren, um sie vor Plünderern zu schützen. An einer Kreuzung regelt ein junger Mann den Verkehr. Er ist vielleicht 18, 19 Jahre alt. Und es funktioniert! Die Ägypter sind eigentlich dafür bekannt, dass sie überhaupt keine Verkehrsregeln beachten. Aber dieser Junge hat die Kreuzung im Griff. Mit einer Handbewegung stoppt er die Autos. Er ist eine Autorität. Und warum? Weil die sonst so renitenten Autofahrer wissen: Der Junge, der den Verkehr regelt, hat nichts gegen mich. Für den sind alle gleich. Auch ein Minister müsste hier anhalten. Eine Schlüsselszene, die zeigt, wie sehr die alten Autoritäten an Ansehen verloren haben. Sie haben das Gesetz nicht geachtet und alles nur zu ihren Gunsten ausgelegt. Es wurde mit zweierlei Maß gemessen. Aber wenn es gerecht zugeht im neuen Ägypten, dann werden die Ägypter vielleicht auch alte, schlechte Gewohnheiten ablegen. Das neu gewonnene Selbstbewusstsein des Volkes zeigt sich an zwei
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