Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
man sich davor schützen kann. Die Offiziere, die bewaffnet waren und Gasmasken trugen, sind verschwunden; die kleinen zwangsrekrutierten Polizisten gerieten zwischen die Demonstranten und wissen nun nicht, wie sie sich helfen sollen. Einige haben ihre Uniformen ausgezogen, um nicht angegriffen zu werden. Kurzfristig sieht es so aus, als hätten wir den Platz endgültig erobert, doch plötzlich hagelt es erneut Geschosse. Diesmal kommt das Feuer von oben. Scharfschützen plazieren sich auf den Dächern. Sie schießen nicht mit Gummigeschossen. Sie schießen mit scharfer Munition. Wir sind in eine Falle geraten. Es gibt Tote und Verletzte. Ich sehe zwei Schwerverletzte, der eine blutet am Auge, der andere liegt mit einer Beinwunde am Boden und schreit. Seitdem klar ist, dass die Polizei mit Krankenwagen Munition transportiert, lassen wir keine mehr zum Tahrir-Platz durch. Wir müssen den Platz wieder räumen, kommen aber nach einer Viertelstunde wieder zurück. Nun, um zu bleiben.
Als es dunkel wird, ziehen sich alle Polizeieinheiten endgültig zurück. Wir rätseln, ob es sich um eine neue Falle handelt oder ob ihnen die Munition ausgegangen ist. Kurze Zeit später rollen Panzer des Militärs auf den Platz. Nach einer kurzen Phase der Irritation und Spekulation, ob wir es mit einem Militärputsch zu tun haben, fangen einige Demonstranten an zu rufen: »Die Polizei prügelt uns, komm Armee und schütze uns.« Nun werden die Panzer mit Applaus begrüßt. Die Soldaten erwidern die Grüße freundlich. Uns ist klar, die Armee ist nicht gekommen, um auf uns zu schießen.
Kurze Zeit später steht das Hauptquartier der regierenden Nationalpartei in Flammen und wird geplündert. Das Herz bleibt mir fast stehen, als ich sehe, wie sich das Feuer fast bis zum Nationalmuseum ausbreitet. Viele junge Männer und Frauen bilden eine Menschenkette um das Museum, um die Plünderer fernzuhalten. »Verbrennt alles, nur nicht unsere Kultur«, schreit eine junge Frau. Später stellt sich heraus, dass die Plünderer, die das Museum betreten wollten, Polizisten sind, die sich ihrer Uniform entledigt haben und nun in Zivil ihr Unwesen treiben. Es ist merkwürdig zu sehen, wie Zivilisten die Polizisten verhaften, um sie der Armee zu übergeben. Haben wir gewonnen? So einfach? Und wenn es so einfach wäre, warum haben wir 30 Jahre gewartet?
Schon vor Stunden habe ich in der drängenden Menge den Kontakt zu meinem Bruder verloren. Ich laufe auf dem Tahrir-Platz umher und suche ihn. Es ist wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Irgendwann treffe ich einen befreundeten Schriftsteller. Früher nannte er sich selbst »feige«. Er hielt nicht viel von Demonstrationen, aber heute ist er da. Heute ist er mutig wie alle auf dem Platz. Er umarmt mich mit Tränen in den Augen und sagt »mabruk«, »gratuliere«. Auch wenn dieses Wort mit dem Wort Mubarak verwandt ist, klingt es in meinen Ohren doch wie ein Lied. »Das Regime hat seine Wirbelsäule verloren«, sagt er, »es kann nie wieder gerade stehen. Dieses Regime war die Polizei. Ist die Polizei weg, ist auch das Regime weg!« »Das Regime war unsere Angst«, sage ich. »Ich glaube nicht, dass wir nach so einem Tag vor irgendetwas oder irgendjemandem wieder Angst haben können.«
Ich drehe noch eine Runde um den Platz und sehe widersprüchliche Szenen. Jubelnde Menschen, junge Frauen und Männer, die das Museum schützen, und andere, die die Regierungseinrichtungen plündern. Polizeiwagen stehen in Flammen. Ich stoppe zwei Jungs von 12 und 14 Jahren, als sie mit einem teuren Sessel aus dem verwüsteten Gebäude der Nationalpartei eilen. »Das gehört euch nicht«, sage ich. »Natürlich gehört es uns. Die Verbrecher haben uns alles gestohlen, jetzt holen wir, was uns zusteht, zurück!«, sagt einer von ihnen. Als ich ihm widerspreche, holt er ein Messer aus seiner Hosentasche und brüllt: »Lass mich in Ruhe! Ich lebe seit meiner Geburt auf der Straße, wo warst du? Mir hat keiner geholfen!« Er scheint entschlossen, seinen eroberten Sessel verteidigen zu wollen. Einige strengreligiöse Salafisten, die sich an den Demonstrationen nicht beteiligt haben, patrouillieren mit Motorrädern und versuchen vergeblich, die Plünderer zurückzuhalten. Die schönsten und hässlichsten Seiten Ägyptens auf engstem Raum.
Spät in der Nacht dieses denkwürdigen 28. Januar 2011 kehre ich zum Hotel zurück – doch es ist geschlossen, aus Angst vor Plünderungen. Ich suche meinen Verleger in den nahe
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