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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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unterschiedlichen Phänomenen: Verantwortungsbewusstsein bei den einen und Selbstjustiz bei den anderen.

    Zurück auf dem Tahrir-Platz. Hier herrscht eine fröhliche Stimmung. Die Demonstranten haben ein paar Kontrollpunkte aufgebaut: Am ersten wird der Personalausweis kontrolliert, um Polizisten in Zivil zu identifizieren. Am zweiten werden die Taschen nach Steinen oder Knüppeln durchsucht. Am dritten Checkpoint stehen Ägypter, die sich für die ersten beiden Kontrollen entschuldigen: »Tut uns leid, muss leider sein.« Damit die Leute nicht mit gekränkter Stimmung auf den Platz kommen. Das war sehr gut organisiert. Der Tahrir-Platz ist gar nicht wiederzuerkennen. Die Reste der Straßenschlacht sind verschwunden. Nie habe ich ihn so sauber gesehen. Es ist jetzt der Platz des Volkes.
    Abends überträgt das Staatsfernsehen eine oscarreife Inszenierung. Über die Demonstrationen wird nicht berichtet, stattdessen über Plünderer. Offenbar bestellte Anrufer sprechen von Hunderten, ja Tausenden Toten, von Gemetzel und Chaos. Aber diese Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die dafür sorgen sollen, dass sich die Menschen nicht mehr auf die Straße trauen, glaubt keiner. Hinter ihr steckt auch eine Botschaft Mubaraks an den Westen. Der Pharao genießt die Unterstützung Europas und der USA seit Jahrzehnten, weil er sich als Garant für Stabilität und Frieden in der Region gibt. Die Alternative zu ihm seien Islamisten, Chaos und Krieg mit Israel.
    Die Telefonleitungen funktionieren nun auch wieder. Meine Mutter ruft mich im Hotel an. Ich kann kaum sprechen, das Tränengas hat meiner Stimme sehr zugesetzt. Ich sei erkältet, sage ich ihr, damit sie sich keine Sorgen macht. »Und wie geht es Mahmoud?«, mein Bruder sei nicht nach Hause gekommen. Ich habe ihn auch nicht gesehen, sage aber schnell: »Ihm geht es gut. Er kann wegen der Ausgangssperre und dem Chaos auf der Straße nicht ins Nildelta fahren.« Das Schicksal meines Bruders macht mir große Sorgen. Ich versuche bei meinem Verleger, dann auf dem Tahrir-Platz etwas über ihn zu erfahren oder ihn gar zu treffen. Die offiziellen Zahlen der Toten und Verletzten von Freitag beunruhigen mich nun sehr. Die Rede ist von über 300 Toten und 900 Verletzten. In Wirklichkeit, und das weiß jeder, starben mehr als 900 Menschen, während 9000 zum Teil schwer verletzt wurden, darunter sind 1200 junge Menschen, die durch die Gummigeschosse ihr Augenlicht verloren.
    Am Abend des nächsten Tages ruft mich endlich mein Bruder aus einem Krankenhaus in der Innenstadt an. Er wurde von einem Polizeiknüppel am Kopf getroffen und lag zwei Tage im Koma, aber jetzt geht es ihm besser. Ich besuche ihn, hole ihn ab, denn er muss trotz seiner schweren Gehirnerschütterung Platz für andere Verletzte machen. Aus Angst vor Straßenräubern fahren die Taxen nicht aus Kairo heraus. So muss mein Bruder mit seiner Gehirnerschütterung selbst im eigenen Wagen in unser Heimatdorf fahren. Ich bleibe in Kairo.

Dienstag, der 1. Februar 2011
    Heute werde ich 39 Jahre alt. Ich habe das Gefühl, dass mir zwei Millionen Menschen zum Geburtstag gratulieren. So viele beteiligen sich heute an den Protesten. Ich erinnere mich an eine lange zurückliegende Demonstration. Damals war ich Student und Mitglied der Muslimbruderschaft. Einige von uns demonstrierten an der Uni gegen Mubarak, weil er die Beteiligung ägyptischer Soldaten am Krieg der Amerikaner gegen Saddam Hussein im Winter 1991 genehmigte. Damals wurde die Demonstration nach wenigen Minuten zerschlagen, und viele wurden verhaftet. Zwanzig Jahre später demonstriere ich wieder gegen Mubarak. Und täglich nimmt die Zahl der Muslimbrüder zu, obwohl sie ihre Teilnahme an den Demonstrationen eigentlich abgesagt haben. Aber noch machen sie sich klein auf dem Platz, weil sie wissen, dass sie nicht die Urheber dieser Revolution sind. In den 80 Jahren seit der Gründung ihrer Bewegung versuchten sie, die ägyptische Bevölkerung für eine islamische Revolution zu mobilisieren, aber ihnen gelang es nie, die Massen wirklich zu bewegen. Nun kommt von der Facebook-Jugend die Initialzündung für die Revolte – und die Muslimbrüder laufen einfach nur mit.
    Die Soldaten schauen uns freundlich zu, wie wir die neue Freiheit feiern. Einer von ihnen lässt sich sogar von den Demonstranten auf den Schultern tragen und ruft euphorisch: »Nieder, nieder mit Mubarak.« Er wird eine der Ikonen dieser Revolution. Später erfahre ich, dass der junge Offizier aus

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