Krieg und Frieden
Brief. Dann schrieb er, er wisse wohl, daß ihre Eltern sie ihm, Anatol, nicht geben würden, aus einem geheimnisvollen Grund, den er nur ihr allein anvertrauen könne. Aber wenn sie ihn liebe, so brauche sie nur das Wörtchen »ja« auszusprechen, und keine menschliche Gewalt werde ihr wonniges Glück zu stören imstande sein. »Die Liebe überwindet alles!«
»Ja, ja, ich liebe ihn!« dachte Natalie, als sie den Brief zum zwanzigsten mal gelesen hatte, wobei sie in jedem Wort einen tiefen, besonderen Sinn suchte.
An diesem Abend fuhr Maria Dmitrijewna zu Acharow und schlug den Mädchen vor, sie zu begleiten. Natalie aber schützte Kopfschmerz vor und blieb zu Hause.
125
Als Sonja spät am Abend zurückkehrte, traf sie zu ihrer Verwunderung Natalie noch angekleidet schlafend auf dem Diwan. Vor ihr lag der offene Brief von Anatol. Sonja ergriff ihn und begann zu lesen. Sie las und sah Natalie ins Gesicht, um eine Erklärung für das zu finden, was sie las. Doch vergebens. Das Gesicht war ruhig, milde und glücklich. Sonja legte die Hand auf das Herz, um nicht zu ersticken, setzte sich, bleich und zitternd vor Schrecken und Aufregung, auf einen Stuhl und brach in Tränen aus.
»Wie war es möglich, daß ich nichts bemerkt habe. Wie konnte das so weit kommen? Sie liebt also den Fürsten Andree nicht mehr! Und wie konnte sie Kuragin so viel erlauben? Er ist ein Betrüger und Bösewicht, das ist klar. Was wird Nikolai sagen, der gute, edle Nikolai, wenn er das erfährt? Das also bedeutete ihr aufgeregtes, entschlossenes Wesen vorgestern, gestern und heute!« dachte Sonja. »Aber es kann nicht sein, daß sie ihn liebt! Wahrscheinlich hat sie diesen Brief geöffnet, ohne zu wissen, woher er kam, wahrscheinlich ist sie beleidigt!« Sonja wischte die Tränen ab, ging auf Natalie zu und betrachtete wieder ihr Gesicht.
»Natalie!« sagte sie kaum hörbar.
Natalie erwachte.
»Ah, du bist zurückgekommen?« Sie umarmte Sonja innig und zärtlich, aber als sie die Verwirrung in Sonjas Mienen bemerkte, wurde sie verlegen und argwöhnisch.
»Sonja, hast du den Brief gelesen?« fragte sie.
»Ja«, antwortete Sonja leise.
Natalie lächelte entzückt.
»Nein, Sonja, ich kann es dir nicht länger verbergen! Sonja, mein Täubchen, er schreibt mir ... Sonja ...«
Sonja traute ihren eigenen Ohren nicht und sah Natalie starr in die Augen. »Und Bolkonsky?« fragte sie.
»Ach, Sonja, ach, wenn du wissen könntest, wie glücklich ich bin!« sagte Natalie. »Du weißt nicht, was Liebe ist! ...«
»Aber Natalie, ist das wirklich alles zu Ende?«
Natalie sah Sonja mit weit aufgerissenen Augen an, als ob sie ihre Frage nicht verstehe.
»Du willst den Fürsten Andree aufgeben?« fragte sie.
»Ach, du verstehst mich nicht, sprich keinen Unsinn!« erwiderte Natalie verdrießlich.
»Nein, ich kann es nicht glauben«, wiederholte Sonja. »Ich begreife es nicht, wie ist es möglich, daß du ein ganzes Jahr lang einen Mann liebst, und dann plötzlich ... Und diesen hast du ja nur dreimal gesehen! Natalie, ich glaube dir nicht, du treibst Scherz, in drei Tagen alles zu vergessen und so ...«
»Drei Tage?« erwiderte Natalie. »Mir scheint es, ich liebe ihn seit hundert Jahren und habe früher niemand geliebt! Das kannst du nicht verstehen, Sonja. Setze dich hierher!« Natalie umarmte und küßte sie. »Man hat mir gesagt, daß das vorkommt, und du hast es wahrscheinlich auch gehört! Aber ich habe jetzt eben erst diese Liebe empfunden. Das ist nicht wie früher. Sobald ich ihn sah, fühlte ich, daß er mein Gebieter ist und ich seine Sklavin bin, und daß ich nicht anders kann als ihn lieben! Ja, seine Sklavin, was er mir befiehlt, das tue ich! Das kannst du nicht begreifen. Was soll ich machen, Sonja?« sagte Natalie mit glücklichem und doch angstvollem Gesicht.
»Aber bedenke doch, was du tust«, erwiderte Sonja. »Ich kann das nicht zulassen! Diesen geheimen Brief! Wie konntest du es so weit kommen lassen?« sagte Sonja mit Schrecken und Abscheu, den sie mit Mühe verbarg.
»Ich habe dir gesagt«, erwiderte Natalie, »daß ich keinen Willen mehr habe. Verstehst du denn nicht, ich liebe ihn!«
»Ich werde das nicht zulassen, ich werde alles sagen!« rief Sonja, während ihre Tränen hervorstürzten.
»Um Gottes willen! Wenn du es sagst, so bist du meine Feindin!« rief Natalie. »Du willst mein Unglück! Du willst, daß man uns trennt ...«
Beim Anblick dieser Angst Natalies weinte Sonja Tränen der Beschämung und des
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