Krieg und Frieden
zurückkehrte. »Wie schön!«
Natalie trat schweigend zu ihrem Vater und sah ihn mit fragenden, verwunderten Blicken an. Nach einigen andern Deklamationen fuhr Mamsell Georges davon, und die Gräfin bat die Gesellschaft in den Saal.
Der Graf wollte nach Hause fahren, aber Helene bat ihn, ihren improvisierten Ball nicht zu verderben. Sie blieben. Anatol forderte Natalie zum Walzer auf und während des Tanzes drückte er zuweilen ihre Gestalt und ihre Hand, sagte ihr, sie sei verführerisch und er liebe sie. Während der Ecossaise, die sie wieder mit ihm tanzte, sah Anatol sie nur schweigend an. Natalie war im Zweifel, ob sie nicht nur im Traum vernommen, was er ihr während des Walzers gesagt hatte. Am Ende der ersten Figur drückte er wieder ihren Arm. Natalie schlug ihre erschreckten Augen auf, aber in seinem freundlichen Gesicht und Lächeln lag ein so zuversichtlich zärtlicher Ausdruck, daß sie nicht auszusprechen vermochte, was sie sagen wollte. Sie senkte die Augen.
»Sprechen Sie nicht solche Dinge! Ich bin verlobt und liebe einen andern!« sagte sie hastig.
Anatol war weder verlegen noch erzürnt über das, was sie ihm sagte.
»Sprechen Sie nicht davon! Was geht das mich an?« sagte er. »Ich sage nur, ich bin wahnsinnig verliebt in Sie! Bin ich etwa schuld, daß Sie so entzückend sind? ... An uns ist die Reihe.«
Natalie sah sich mit glänzenden Augen um und schien heiterer als gewöhnlich zu sein. Sie begriff fast nichts von den Vorgängen dieses Abends. Es wurde Ecossaise und Großvater getanzt, und als ihr Vater sie aufforderte, nach Hause zu gehen, bat sie, noch bleiben zu dürfen. Wo sie auch war, mit wem sie auch sprach, immer fühlte sie seinen Blick auf sich. Dann erinnerte sie sich, daß sie ihren Vater um die Erlaubnis bat, in das Toilettenzimmer zu gehen, um ihr Kleid zu ordnen, daß Helene ihr nachfolgte und lachend von der Liebe ihres Bruders sprach, daß sie in dem kleinen Nebensalon wieder Anatol begegnete, worauf Helene verschwand, daß sie mit Anatol allein blieb, welcher ihre Hand ergriff und mit zärtlicher Stimme sagte: »Ich kann Sie nicht besuchen, aber soll ich Sie wirklich nie wiedersehen? Ich liebe Sie wahnsinnig!« Er vertrat ihr den Weg und näherte sein Gesicht dem ihrigen.
Seine glänzenden großen Augen waren den ihrigen so nahe, daß sie nichts anderes als diese Augen sah.
»Natalie?« flüsterte er mit fragender Stimme und drückte stark ihre Hände – »Natalie!«
»Ich verstehe nichts und habe nichts zu sagen«, antwortete ihr Blick.
Heiße Lippen drückten sich auf ihre Lippen, und in demselben Augenblick schon fühlte sie sich wieder frei. Im Zimmer hörte man Schritte und das Rauschen von Helenes Kleid. Natalie blickte sich um, dann sah sie ihn errötend, zitternd und fragend an und ging zur Tür.
»Ein Wort! Nur ein Wort! Ich bitte Sie!« rief Anatol. Sie blieb stehen. Sie wünschte so sehr dieses Wort zu hören, das ihr erklären sollte, was geschehen war, und auf das sie ihm antworten sollte.
»Natalie! nur ein Wort! ... Ein einziges!« wiederholte er. Er wußte offenbar nicht, was er sagen sollte, und wiederholte es, bis Helene sich ihnen näherte.
Helene trat mit Natalie wieder in den Salon. Ohne das Abendessen abzuwarten, fuhr Rostow mit den Mädchen nach Hause.
Natalie konnte die ganze Nacht nicht schlafen, gequält von der unlöslichen Frage, wen sie liebe, Anatol oder den Fürsten Andree. Den Fürsten Andree liebte sie, sie erinnerte sich deutlich, wie sehr sie ihn geliebt hatte, aber Anatol liebte sie auch, das war unzweifelhaft. »Wie hätte sonst das alles geschehen können?« dachte sie. »Was soll ich tun, wenn ich den einen liebe und den andern auch?« fragte sie sich, fand aber keine Antwort auf diese schreckliche Frage.
124
Am andern Morgen nach dem Frühstück saß Maria Dmitrijewna auf ihrem Lehnstuhl und rief Natalie und den alten Grafen zu sich.
»Ich habe mir jetzt die Sache überlegt«, sagte sie, »und das ist mein Rat: Gestern, wie ihr wißt, war ich beim Fürsten Bolkonsky und sprach mit ihm. Er wollte mich anfahren, aber ich lasse mich nicht überschreien, ich habe ihm alles vorgesungen.«
»Nun, was meint er?« fragte der Graf.
»Der Fürst ist verrückt ... will nichts hören! Nun, was ist da zu reden? Aber mein Rat ist der, ihr beendigt eure Geschäfte und fahrt nach Hause, nach Otradno, und dort wartet ihr! ...«
»Ach nein«, rief Natalie.
»Doch, es ist durchaus nötig«, sagte Maria Dmitrijewna. »Wenn jetzt der
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