Krieg und Frieden
verstummten, die Tür sich von selbst öffnete und Kutusow, mit seiner Adlernase auf dem dicken Gesicht, auf der Schwelle erschien. Fürst Andree blieb gerade vor Kutusow stehen, aber an dem Ausdruck seines einzigen Auges war ersichtlich, daß die Gedanken und Sorgen ihn so stark in Anspruch genommen hatten, daß er nichts bemerkte. Er blickte seinem Adjutanten ins Gesicht, ohne ihn zu erkennen.
»Nun, ist's fertig?« fragte er Koslowsky.
»Im Augenblick, Exzellenz!«
Bagration, ein kleiner, noch rüstiger Mann mit orientalischem Typus, erschien hinter dem Oberkommandierenden.
»Ich habe die Ehre, mich zu melden«, sagte Fürst Andree ziemlich laut, indem er ein Kuvert überreichte.
»O! Aus Wien? Gut, später! Später!«
Kutusow ging mit Bagration auf die Vortreppe hinaus.
»Nun, Fürst, lebe wohl!« sagte er zu Bagration. »Christus sei mit dir!«
Kutusows Gesicht nahm plötzlich einen weichen Ausdruck an und Tränen erschienen in seinen Augen. »Christus sei mit dir!« wiederholte er und ging zu seinem Wagen. »Fahre mit mir«, sagte er zu Bolkonsky.
»Hohe Exzellenz, ich möchte gern hier nützlich sein. Erlauben Sie mir, in dem Heeresteile des Fürsten Bagration zu bleiben.«
»Steige ein!« sagte Kutusow. »Ich habe gute Offiziere selbst nötig!«
Sie stiegen in den Wagen und fuhren schweigend einige Minuten.
»Es bleibt noch viel zu tun«, sagte Kutusow. Bald schien er vergessen zu haben, was er gesagt hatte, und versank wieder in Nachdenken. Nach fünf Minuten wandte er sich wieder an Fürst Andree. Keine Spur von Aufregung war auf seiner Miene zu erkennen. Mit feinem Spott fragte er den Fürsten Andree nach seinen Erlebnissen während der Audienz beim Kaiser und nach den Äußerungen, die er über das Gefecht bei Krems gehört hatte.
35
Kutusow hatte in Krems an der Donau am l. November durch Kundschafter eine Nachricht erhalten, nach welcher seine Armee sich in einer verzweifelten Lage befand. Ein Spion meldete, die Franzosen hätten mit bedeutenden Kräften die Brücke bei Wien überschritten und bedrohten die Verbindungen Kutusows mit den Truppen, die aus Rußland kommen sollten. Wenn Kutusow bei Krems an der Donau blieb, so würde er von Napoleon mit hundertfünfzigtausend Mann abgeschnitten, und seine Armee befand sich in derselben Lage wie Mack bei Ulm. Wenn aber Kutusow seine Verbindung mit Rußland aufgab, so mußte er sich in die unwegsamen böhmischen Wälder zurückziehen und jede Hoffnung auf Vereinigung mit Buxhöwden aufgeben. Wenn aber Kutusow sich entschloß, auf dem Wege von Krems auf Olmütz sich zurückzuziehen, um die Verstärkungen aus Rußland an sich zu ziehen, so riskierte er, daß ihm auf diesem Wege die Franzosen zuvorkamen, die von Wien aus nördlich marschierten, und auf diese Weise genötigt zu sein, sich gegen einen Feind zu schlagen, der ihm an Zahl weit überlegen war und ihn von allen Seiten einschließen konnte. Kutusow wählte diesen letzteren Weg.
Wie der Kundschafter meldete, marschierten die Franzosen in Eilmärschen auf Znaim, das auf dem Wege von Krems nach Olmütz, der Rückzugslinie Kutusows, lag und hundert Kilometer von Krems entfernt ist. Wenn er Znaim vor den Franzosen erreichte, so war Hoffnung auf Rettung der Armee vorhanden, wenn er die Franzosen aber sich zuvorkommen ließ, so war das der Untergang. Den Franzosen aber mit der ganzen Armee zuvorzukommen war unmöglich, der Weg der Franzosen von Wien nach Znaim war kürzer und besser als der Weg der Russen von Krems nach Znaim.
Noch in der Nacht nach Empfang dieser Nachricht sandte Kutusow Bagration nach rechts über die Berge, um sich auf dem Wege zwischen Wien und Znaim aufzustellen, mit dem Gesicht nach Wien und mit dem Rücken nach Znaim. Und wenn es ihm gelang, den Franzosen zuvorzukommen, so sollte er sich so lange halten, wie er konnte. Kutusow selbst marschierte mit der ganzen Bagage nach Znaim. Bagration marschierte mit seinen hungrigen, erschöpften Soldaten über die unwegsamen Berge in der stürmischen Nacht fünfundvierzig Kilometer weit und verlor den dritten Teil seiner Mannschaft an Nachzüglern, aber er traf in Hollabrunn auf der Strecke von Wien nach Znaim einige Stunden vor den Franzosen ein, die von Wien her auf Znaim marschierten. Kutusow aber hatte noch vierundzwanzig Stunden mit seiner Bagage nötig, um Znaim zu erreichen. Also mußte Bagration mit seinen hungrigen Soldaten vierundzwanzig Stunden lang die ganze feindliche Armee aufhalten, was augenscheinlich unmöglich
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