Krieg und Frieden
Schreien und Stöhnen, das ihm zuweilen wie Verstellung vorkam. Er setzte sein Pferd in Trab, nicht weil er für sein Leben fürchtete, sondern weil er fühlte, daß sein Mut den Anblick dieser Unglücklichen nicht ertragen konnte.
Die Franzosen hatten aufgehört, auf dieses mit Toten und Verwundeten besäte Feld zu schießen. Als sie den auf sie zukommenden Adjutanten bemerkten, richteten sie eine Kanone nach ihm und schossen einige Kugeln ab.
Beim Dorfe Gostjeradek traf er russische Truppen, die in besserer Ordnung vom Schlachtfeld abmarschierten. Nur noch aus der Ferne hörte man Gewehrfeuer. Hier sahen schon alle klar, daß die Schlacht verloren war. Ein Offizier sagte Rostow, er habe in einem Dorfe zur Linken einen der höchsten Generale gesehen, und dorthin ritt Rostow, wenn auch ohne Hoffnung, jemand zu finden, nur um sein Gewissen zu beruhigen. Nachdem er etwa drei Kilometer weitergeritten war, hatte er die letzten russischen Truppen überholt. Bei einem Garten, der von einem Graben umgeben war, erblickte er zwei Reiter, der eine erschien Rostow bekannt, der andere, dessen Pferd Rostow gleichfalls bekannt erschien, ritt an den Graben und spornte das Pferd an, welches leicht über den Graben setzte. Er wandte das Pferd, übersprang nochmals den Graben und näherte sich ehrerbietig dem anderen Reiter, dem er wahrscheinlich vorschlug, seinem Beispiel zu folgen. Der andere antwortete mit einer verneinenden Gebärde, und an dieser erkannte Rostow sofort seinen beweinten verehrten Kaiser. »Aber das kann er nicht sein! Allein in dieser Einöde?« dachte Rostow. In diesem Augenblick wandte Alexander den Kopf, und Rostow sah die in sein Gedächtnis eingegrabenen, geliebten Züge. Rostow war glücklich, ihn zu sehen. Er wußte, daß er sich direkt an ihn wenden konnte und er mußte ihm sogar berichten, was ihm von Dolgorukow aufgetragen worden war. Aber wie ein verliebter Jüngling zittert und verstummt, wenn er die Geliebte erblickt, so wußte auch jetzt Rostow in dem Augenblick, den er so lange herbeigewünscht hatte, nicht, wie er es wagen sollte, sich dem Kaiser zu nähern.
»Wie, ich sollte es wagen, den Zufall zu benutzen? Ein unbekanntes Gesicht in diesem kummervollen Augenblick könnte ihm peinlich sein. Und was sollte ich ihm auch sagen?« Nicht eine jener zahlreichen Reden, die er sich zuvor zurechtgelegt hatte, kam ihm jetzt ins Gedächtnis. Diese Reden paßten zu ganz anderen Gelegenheiten, meist für Augenblicke des Triumphs und hauptsächlich zu einem Totenbett, wo der Kaiser ihm für seine Heldentaten dankte, und er sterbend seine hingebende Verehrung aussprach.
»Und was sollte ich auch jetzt den Kaiser um Befehle für den rechten Flügel bitten, wo die Schlacht schon verloren ist? Nein, ich kann mich ihm jetzt nicht nähern, lieber tausendmal sterben, als einen mißfälligen Blick von ihm zu ertragen!«
Während Rostow betrübt weiterritt, kam der Kapitän von Toll zufällig an dieselbe Stelle. Als er den Kaiser erblickte, ritt er sogleich auf ihn zu, bot ihm seine Dienste an und half ihm, den Graben zu Fuß zu überschreiten. Der Kaiser fühlte sich unwohl und erholungsbedürftig und setzte sich unter einen Apfelbaum. Toll stand vor ihm, und Rostow sah von fern, wie Toll lange und lebhaft mit dem Kaiser sprach, welcher zu weinen schien, die Augen mit der Hand bedeckte und Toll die Hand drückte.
»Und ich könnte an seiner Stelle sein!« dachte Rostow. Er vermochte kaum seine Tränen zurückzuhalten und ritt verzweifelt weiter, ohne zu wissen, wohin. Er hatte die einzige Gelegenheit verscherzt, dem Kaiser seine Ergebenheit zu beweisen.
»Was habe ich getan?« dachte er. Er wandte sein Pferd und galoppierte zurück an die Stelle, wo er den Kaiser gesehen hatte, fand aber niemand mehr außer Equipagen und Wagenzügen. Von einem der Fuhrleute erfuhr Rostow, der Stab Kutusows befinde sich in der Nähe in einem Dorf, wohin die Wagen fuhren, und Rostow folgte ihnen nach.
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Um fünf Uhr abends war die Schlacht auf allen Punkten verloren. Mehr als hundert Kanonen blieben in den Händen der Franzosen, Prschebischewsky legte mit seinem ganzen Heeresteil die Waffen nieder, andere Kolonnen, welche die Hälfte ihrer Leute verloren hatten, zogen sich in wirren Haufen zurück. Um sechs Uhr hörte man nur noch eine heftige Kanonade von französischer Seite, welche zahlreiche Batterien am Abhang der Höhe von Pratzen errichtet hatten und unsere Truppen beschossen. Bei der Nachhut hatten Dochturow
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