Krieger der Stille
Nachdruck formuliert, ein Verstoß gegen die Regeln des Anstands. Sie war eine skandalträchtige Frau und hatte einen miserablen Ruf, den man ihr wegen ihres herausragenden Talents jedoch verzieh. Nun hatte sie ihr Ziel erreicht: Fast alle Blicke waren auf die beiden gerichtet, vorwurfsvolle Blicke. Der arme Artuir wurde immer verwirrter und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Und schon meldete sich seine innere Stimme wieder, dieses Mal triumphierend. Sie riet ihm dringend, nie wieder an einer derartigen Versammlung teilzunehmen.
Erst die Ankunft Tist d’Argolons und seiner Gattin Maryt befreite ihn aus seiner misslichen Lage. Das Paar hatte den Saal durch eine Geheimtür neben dem Podium betreten, und zu Artuirs großer Erleichterung wandten sich die Blicke seiner Henker jetzt dem gastgebenden Paar zu.
Tist d’Argolon war der Abkömmling eines uralten syracusischen Adelsgeschlechts und mit jener natürlichen Anmut ausgestattet, nach der Emporkömmlinge vergeblich streben: groß, schlank, ein Mann mit feinen aristokratischen Zügen. Er trug einen königsblauen Colancor, dazu
ein kurzes nachtblaues Cape, Farben, die das intensive Goldgelb seiner Augen unterstrich. Die einfache Eleganz seiner Kleidung machte den zur Schau gestellten Pomp der Eingeladenen fast lächerlich, wie Artuir als Mann vom Fach sofort erkannte.
Tists Gemahlin Maryt hatte sich für schlichtes Weiß entschieden. Nur ihr Cape war mit alten Mondsteinen besetzt. Ihr helles Funkeln und ihre lichte Erscheinung bildeten einen perfekten Kontrast zu ihrem kohlschwarzen Haar und ihren mandelförmigen, ebenso dunklen Augen. Die beiden waren ein wunderschönes Paar, sie bildeten den strahlenden Mittelpunkt unter den Anwesenden. Ihre Gedankenschützer stellten sich rechts und links vom Podium auf.
In Begleitung eines Assistenten betrat nun ein Dritter den Saal: ein magerer, gebeugter Mann mittlerer Größe, dessen Äußeres nachlässig und ungepflegt wirkte. Sein fleckiger und zerrissener safrangelber Colancor war völlig fehl am Platz, ein unverzeihlicher Fauxpas in dieser illustren Runde, und sein stahlgraues Haar war struppig und unfrisiert. Unter buschigen Brauen glühten seine Augen wie im Fieberwahn.
Das Unvorstellbare geschah: Tist d’Argolon lud diesen Mann ein, sich neben ihn auf die Podiumsbank zu setzen. Das Erstaunen der Geladenen verwandelte sich in Empören. Flüsternd gaben sie ihrer Missbilligung Ausdruck.
Artuir Boismanl hielt den Mann für einen ehemaligen Priester der Kirche des Kreuzes, der entweder selbst ausgetreten oder als Häretiker zum Austritt gezwungen worden war, jedoch jetzt im Untergrund leben musste, um nicht im Feuer zu sterben. Doch warum er im Haus des Adeligen war, das wusste der Tuchhändler nicht. Zwischen
diesen beiden Männern hätte es keinen größeren Unterschied geben können. Trotzdem plauderten sie wie zwei alte Freunde miteinander. Diese Soiree begann mit etlichen Überraschungen. Artuirs innere Stimme verstummte ganz unerwartet. Seine Neugier hatte sowohl seine Angst als auch seine Verlegenheit besiegt.
Mit einer Handbewegung kündigte Tist d’Argolon an, dass er sprechen wolle. Eine Stille, die nur vom melodischen Singen des Brunnens unterbrochen wurde, senkte sich über den Raum.
»Ich heiße alle willkommen«, verkündete der Adelige mit wohlklingender Stimme. »Und ich bin sehr glücklich, dass alle meiner Aufforderung gefolgt sind. Um meinen Dank zu bezeugen, und weil es so Brauch ist, wird meine Gattin jetzt die Hymne an die Freundschaft singen.«
Artuir erinnerte sich, dass Maryt Frasciata vor ihrer Hochzeit eine Diva des Emotionellen Gesangs gewesen war, eine Berühmtheit in allen Welten der Konföderation von Naflin. Ihre Karriere hatte sie aus Liebe zu ihrem Gemahl aufgegeben, ein Ereignis, das leidenschaftliche Reaktionen auf Syracusa hervorgerufen hatte, es hieß sogar, dass einige ihrer Bewunderer aus Gram den Freitod gewählt hätten.
Jetzt erfüllte die kristallklare Stimme Maryt d’Argolons den Raum. Das Publikum lauschte gebannt, wie verzaubert. Artuir war überzeugt, dass einige Höflinge nur ihretwegen gekommen waren, denn die Sängerin sang diese Hymne nicht bloß, sie lebte sie:
Da unser Haus das Eure ist,
Bedeutet die Erfüllung Eurer Wünsche unsere freudige
Pflicht,
Denn Grenzen kennt die Freundschaft nicht.
Sie ist ein Geschenk des Ich,
Ein Friedensstrom, der weiterfließt
Und sich ins unendliche Meer der Liebe ergießt …
Von nostalgischem Gemurmel der
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