Kriegsenkel
auf dem Schoß behalten, und es fiel ihr nichts Besseres ein, als es wieder hinzulegen. So ähnlich wird sie ja wohl auch mit meinem Bruder und mir umgegangen sein, als wir klein waren.«
Eine andere Besonderheit ihrer Kindheit sieht sie heute darin, dass Essen immer ein großes Thema war. Ihre Mutter ekelte sich geradezu vor gehaltvollen Speisen. Sie begründete es damit, sie sei als Kind bei Bauern regelrecht mit Mehlsuppe und Kartoffelpampe gemästet worden. Das geschah in den ersten Jahren nach der Flucht. Die Mutter der kleinen Helga, Annas Großmutter, lebte und arbeitete auf einem Bauernhof, und zwar unter ähnlich elenden Bedingungen wie Jochens Mutter. Helga Behrend hatte später immer von sich behauptet, sie sei ein dickes Kind gewesen. »Auf ihren Kinderfotos ist davon aber nichts zu erkennen«, stellt ihre Tochter fest. »Jedenfalls war es Mutters Bestreben, seit ich auf der Welt bin, dass ich nicht dick werde«. Im Unterschied zum Bruder, der ein extrem schlechter Esser war, blieb bei Anna nie etwas auf dem Teller zurück. Sie verlangte Nachschlag, vor allem beim Nachtisch, denn sie liebte Süßes. Aber die Mutter ließ diesbezüglich nicht mit sich handeln. Also habe sie sich heimlich von ihrem Taschengeld Süßigkeiten gekauft, erzählt Anna. Ihre Mutter habe immer wieder [285] Hanuta-Verpackungen und Brausetütchen gefunden und sei maßlos enttäuscht gewesen. »Mit zwölf Jahren bin ich dann total dünn geworden«, fährt sie fort. »Das fand ich toll. Und meine Mutter sagte: Das hast du nur mir zu verdanken. Mein Vater fand es aber nicht toll. Er machte Witze darüber, dass ich als junges Mädchen kaum Brust hatte. Wenn ich nicht mitlachte, hieß es: Das Kind hat keinen Humor.« Sie ging gebeugt, die Schultern nach vorn, und trug nur weite Kleidung. Sie gehe erst seit einigen Jahren aufrecht, sagt sie, und es habe lange gebraucht, bis sie ihren Vater habe umarmen können.
Das Ultimatum
Dann kommt sie auf die dunkelste Zeit ihres Lebens zu sprechen. Etwas Unerwartetes geschah: Mutter und Vater verbündeten sich gegen ihre Tochter. Anna hatte sich in einen psychisch kranken Mitschüler verliebt. »Er war mit Sicherheit nicht der Richtige für mich«, räumt sie ein. »Aber meine Eltern reagierten ohne jedes Maß.« Hartmut und Helga Behrend stellten ihrer Tochter ein Ultimatum: Entweder, sie trennt sich von ihrem Freund oder sie muss ausziehen. »Ich saß dann mutterseelenallein in einer Einzimmerwohnung«, erzählt sie. »Ich fühlte mich wie ausgestoßen!« Offenbar waren die Eltern außer sich vor Sorge. Aber sieht so die Fürsorge für eine jugendliche Tochter aus, die kurz vor dem Abitur steht?
Jedes Wochenende bestieg die Schülerin die Bahn, 200 Kilometer hin, 200 Kilometer zurück, um ihren Freund in einer psychiatrischen Anstalt zu besuchen. Jeweils eine Stunde durfte sie ihn sehen. Er stand unter starken Medikamenten und war kaum mehr in der Lage, auf seine Freundin zu reagieren. In dieser Zeit erlitt Annas Mutter einen Herzinfarkt. Nun ging es nicht nur darum, den Freund zu retten, sondern auch noch die Person, für die sie schon als Kind die Verantwortung übernom [286] men hatte. Es zerriss sie. Wenn sie zur Rehaklinik für Herzpatienten fuhr, warf sie sich vor, sie lasse ihren Freund im Stich – im umgekehrten Fall ihre Mutter. Ein Wunder, dass sie dennoch ihr Abitur schaffte.
Während des Studiums verliebte sie sich erneut. Fünf Jahre, berichtet sie, habe sie mit einem Kommilitonen zusammengelebt, fünf glückliche Jahre. Aber die Beziehung hielt nicht. Dann trat ein neuer Mann in ihr Leben, den sie weit weniger liebte. Mit 28 Jahren entschied sie sich zu einem Schwangerschaftsabbruch. »Ich habe gespürt«, so begründet sie ihren Schritt, »dass in meinem Leben kein Platz für ein Kind ist. Ich sah ja, wie sehr ich mich nur um mich selbst drehte, ohne wirklich von der Stelle zu kommen. Da hätte ich als Mutter vollkommen versagt.«
Inzwischen ist sie Anfang vierzig, und ihre Entscheidung ist gefallen. Sie will ein Kind. Sie will mit Jochen eine Familie gründen – daher die neue Wohnung von 120 Quadratmetern. Ob sie in ihrem Alter noch schwanger werden wird? Anna und Jochen wissen: Es ist fünf Minuten vor zwölf.
Schuldgefühle aushalten
Das Verhältnis zur Mutter hat sich bei Anna in den vergangenen zwei Jahren vollkommen verändert. Es geschah im Laufe eines inneren Prozesses, der die Tochter enorm anstrengte. Sich aus ihrer Abhängigkeit zu befreien, bedeutete für
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