Kriegsenkel
Jahre ist es ihr gelungen, sich von den Spätfolgen ihrer Traumata zu befreien. Angehörige [297] ihrer Generation haben nur selten Erfahrungen mit Psychotherapie. Und wenn doch, dann blieb der Gewinn oft hinter den Erwartungen zurück. Viele Kriegskinder wurden in ihrem späteren Leben immer wieder oder durchgängig mit Depressionen, Ängsten oder anderen psychosomatischen Erkrankungen belastet, ohne zu wissen, dass ihnen seelische Verletzungen aus dem Krieg zu Grunde lagen. Die Psychotherapeuten waren genauso ahnungslos. Leider wurden hierzulande die Erkenntnisse der Traumaforschung aus den USA lange ignoriert, so dass die neuen, viel versprechenden Behandlungsmethoden mit 15 Jahren Verspätung in Deutschlands Fachkreisen ankamen.
Auch heute kommt für die Angehörigen der Kriegskindergeneration Psychotherapie kaum in Frage. Gelegentlich wird ein solcher Schritt erwogen und dann wieder verworfen: Man fühlt sich dafür zu alt oder traut dem Procedere grundsätzlich nichts zu. Den meisten Kriegskindern reicht es, sich mit Gleichaltrigen über das gemeinsame Schicksal auszutauschen. Viele setzen sich hin und schreiben ihre Erinnerungen auf. Sie tun es für ihre Kinder und Kindeskinder. Vielleicht erhoffen sie sich für sich selbst eine gewisse Entlastung. Und womöglich erfahren auch solche Menschen eine Erleichterung, die dies gar nicht erwarteten. Ich möchte hier noch einmal das Zitat des Kriegskinder-Forschers Michael Ermann aus dem ersten Kapitel wiederholen: »Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens – ohne diese gibt es keine positive Identität.« Darum also geht es vielen Kriegskindern, wenn sie sich im Alter ihren frühen Erinnerungen zuwenden: Sie wollen das eigene verunsicherte Lebensgefühl in eine positive Identität verwandeln. Sie spüren, dass sie diesen Weg gehen müssen, um in ihrem letzten Lebensabschnitt inneren Frieden zu finden. Manche alte Menschen nutzen das Aufschreiben ihrer Erinnerungen, um sich selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen, auch hinsichtlich ihrer Beziehungen zu den Kindern. Bei ihnen darf man hoffen, dass sie sich in einer Weise auf ihre [298] Kinder zu bewegen werden, wie Gabriele Heinen es tat. Die große Mehrheit wird dafür keinen Grund sehen.
Ungute Fürsorge
Mein Standpunkt ist: Kriegsenkel, die sich heute noch nicht wirklich abgenabelt haben, tun gut daran, sich von ihren Hoffnungen auf mehr Gemeinsamkeiten mit den Eltern zu verabschieden. Sie sollten sich nicht länger um mehr Nähe bemühen, sondern die Beziehung so akzeptieren wie sie ist. Es wäre für sie wichtig, im Umgang mit Mutter und Vater zwischen Rücksichtnahme und unguter Fürsorge zu differenzieren, mehr Initiative zu zeigen und sich entscheidenden Fragen zu stellen: Will ich beruflich noch einmal durchstarten und endlich mein Potenzial ausschöpfen? Will ich Familie und eigene Kinder? Wenn ja, wie gelingt es mir, mich nicht länger durch meine Fürsorge für die Eltern emotional aussaugen zu lassen? Wie kann ich mich stärker von Mutter und Vater abgrenzen, damit meine Kraft reicht, um die eigene Zukunft zu gestalten?
Eine gewisse Parallele zwischen einer Hemmung in privaten Dingen und gesellschaftlichen Belangen ist für mich unübersehbar: Die Generation der Kriegsenkel nimmt heute verantwortungsvolle Positionen des öffentlichen Lebens ein. Sie hält die Zügel in der Hand und nutzt ihren Einfluss doch viel zu wenig. Für die Generation ihrer Eltern, für die Kriegskinder, ist es von Vorteil, wenn sich gesellschaftlich möglichst wenig ändert – für die Generation der Kriegsenkel gilt das nicht. Von den Auswirkungen eines gigantischen Schuldenbergs oder miserabler Bildungschancen werden die Älteren während der ihnen noch bleibenden Jahre nicht viel spüren. Ganz anders die Kriegsenkel: Wenn auch sie in den Genuss einer ausreichenden Altersrente kommen wollen, wenn ihnen vor einem Sozialstaat amerikanischer Prägung graut, wenn ihnen die Aufrechterhaltung [299] sozialer Gerechtigkeit wichtig ist, wenn sie sich auch künftig auf die Gesellschaft verlassen wollen, dann reicht es nicht, die Zügel in der Hand zu halten und die Kutsche einfach weiter rollen zu lassen. Dann wird ihnen kaum etwas anderes übrig bleiben, als sich bewusst mit ihrer Generation zu solidarisieren und gemeinsam dafür zu sorgen, dass Deutschland wieder zukunftsfähig wird. Man kann die dafür nötigen politischen Entscheidungen mühelos aufschieben, wie es in den vergangenen 15
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