Kriegsenkel
Sichtweisen, auf ein extremes Sicherheitsbedürfnis und ein gänzliches Desinteresse an irgendeinem neuen Thema. In dieser Weise äußerte sich eine Werbefachfrau, die ich aus der Nachbarschaft kannte. Sie stand noch unter dem Eindruck eines spannungsreichen Besuchs bei ihren Eltern. Einzelheiten teilte sie mir nicht mit. Stattdessen fing sie an, deren Wohnzimmer zu beschreiben: Holzmöbel in der Optik »deutsche Eiche«, eine barocke Polstergarnitur, geraffte Stores, an der Wand eine Zigeunerin sowie ein Puzzle aus 4000 Teilen und auf dem Tisch ein Weinflaschenständer mit eisernem Blattwerk. »Keine Vase gefällt mir, kein Bild, kein Kissen«, sagte die Tochter, und es klang wie eine Beschwerde. »Nichts von der Einrichtung würde ich haben wollen. Kein einziges Buch würde mich interessieren, mal abgesehen vom ADAC Auto-Atlas.« Als ich fragte, ob es denn in ihrer eigenen Wohnung etwas gäbe, das ihren Eltern gefiele, stutzte sie und dachte nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nichts. Nicht einmal meine teure Espressomaschine.«
Einige Tage später rief mich die Werbefachfrau an und teilte mir mit, sie habe mit zwei gleichaltrigen Kolleginnen darüber gesprochen. Die hätten nur gelacht über den »clash of culture«. Obwohl man sich in völlig unterschiedlichen Welten aufhielt, war in ihren Familien das Verhältnis zwischen den Generationen entspannt. Dass Mutter und Vater sich mit den Grundgedanken der Werbung vertraut machten, wurde nicht erwartet. Geredet wurde über Enkelkinder, Verwandtschaft, Reisen und Kochrezepte, das ergab Gesprächsstoff genug. Beide Kolleginnen hatten auf die Frage »Was würdet ihr aus dem Wohnzimmer eurer Eltern gern mitnehmen?« spontan geantwortet: »Die Fotoalben von früher.« Meine Nachbarin erzählte mir, wie sehr sie das überrascht habe, denn ihre Eltern besäßen kaum Bilder aus ihrer Kindheit.
[19] Durch Nachfragen erfuhr ich, ihr Vater habe als Fünfjähriger die Zerstörung Kassels erlebt, und ihre Mutter sei als Kleinkind mit ihrer Familie aus Ostpreußen geflohen. Als ich einwarf: »Vielleicht sind Ihre Eltern deshalb so wie sie sind, weil sie als Kinder Schreckliches erlebt haben«, herrschte eine Weile Schweigen in der Leitung. Dann kam der Satz, den ich schon von so vielen Kriegsenkeln gehört hatte: »Darüber habe ich noch nie in meinem Leben nachgedacht.«
Überdosis NS-Geschichte
Im Unterschied zu den 1950er Jahrgängen haben Menschen, die ein Jahrzehnt später geboren wurden, einen weit geringeren Bezug zur Vergangenheit. Für sie ist kaum vorstellbar, dass die unheilvolle deutsche Geschichte auch noch in ihr heutiges Leben hineinwirken kann. Dafür gibt es drei Gründe: der zeitliche Abstand, das weit verbreitete Schweigen in den Familien und eine Aversion gegenüber NS-Themen, weil man während der Schulzeit eine Überdosis eingetrichtert bekommen hatte. Alles nachvollziehbare Gründe, die letztlich zu einem Defizit führten. Dass es Nachteile haben kann, wenn geschichtliches Denken in der persönlichen Entwicklung negiert wird, dafür fand Cicero vor über 2000 Jahren klare Worte: »Nicht zu wissen, was vor der eigenen Geburt geschehen ist, heißt, immer ein Kind zu bleiben.«
Wir sprechen bei den Kriegsenkeln von einer Altersgruppe, die zu großen Teilen der »Generation Golf« (1965–1975 geboren) zugerechnet wird. Buchautor Florian Illies, der den Begriff erfand, hat sich und seine Altersgenossen selbstironisch beschrieben: Die Generation Golf sei durch und durch konsumorientiert und vor allem von den achtziger Jahren geprägt, »das langweiligste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts«. Im Rückblick auf seine Kindheit hat Illies im Klappentext des Buches einen [20] bemerkenswerten Satz formuliert: »Noch ahnte man nicht, dass man einer Generation angehörte, für die sich leider das ganze Leben, selbst an Montagen, anfühlte wie die träge Bewegungslosigkeit eines Sonntagnachmittags.«
Ich möchte hinzufügen: Noch ahnte man in der Generation Golf nicht, dass mit Globalisierung, Finanzkrise und Arbeitslosigkeit ganz andere Themen als Konsum auftauchen würden. Noch ahnte man nicht, dass man der ersten Nachkriegsgeneration angehörte, der im Unterschied zu Eltern und Großeltern kein behaglicher Ruhestand vergönnt sein würde, weil eben diese sich der öffentlichen Kassen gedankenlos bedient und ihren Nachkommen einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen hatten. Noch ahnte man nicht, dass man zu gehemmt sein würde, um die Älteren mit ihrer
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