Kriegsenkel
zusammenstürzten. Sie betonte, er hätte viel Rauch eingeatmet, da hätte er kaum noch Luft gekriegt.
Als der Vater seine Tochter holen wollte, wurde er von dem Psychiater auf das Trauma angesprochen, das Marie beschrieben hatte. Er reagierte überrascht, denn er war zum Zeitpunkt des Anschlages überhaupt nicht in der Nähe des World Trade Centers gewesen. Durch behutsames Nachfragen des Arztes ergab sich folgendes Bild: Der Mann litt unter großen Schuldgefühlen, weil er mit einem Kollegen die Schicht getauscht hatte, der daraufhin umgekommen war. Auch hatten einige seiner Freunde auf Grund seiner Vermittlung Arbeit im World Trade Center gefunden.
Die quälenden Schuldgefühle eines Überlebenden zwangen ihn dazu, sich eindringlich vorzustellen, wie seine Freunde gestorben waren – das Feuer, der Rauch und was [280] sie gefühlt haben mussten. Er hatte ebenso wie seine Tochter Alpträume, aus denen er mehrmals in der Nacht aufschreckte, nur um weiter über den Tod der Freunde nachzugrübeln. 22
Diese kleine Szene im »Kid’s Corner« im Jahr 2001, als ein Kind die Alpträume seines Vaters malte, vermittelt einen schwachen Eindruck davon, was Annas Eltern in ihrer frühen Kindheit ertragen und in sich verschließen mussten. Man kann davon ausgehen, dass ihnen keine einfühlsamen Erwachsenen zur Seite standen, weil die ihre ganze Kraft für das Überleben der Familie einsetzten oder womöglich als Traumatisierte in ihren Gefühlen versteinert waren. Viele Kinder reagierten mit einer Art Selbstbetäubung. Sie spalteten nicht verkraftbare Gefühle ab, sie vergaßen. Auf der anderen Seite hielten sie sich an schönen Erinnerungen fest, die es trotz des Krieges in jeder Kindheit gab – alles in allem eine perfekte Überlebensstrategie.
Die Tochter durfte nicht studieren
Helga Behrend*, die Mutter von Anna, wurde 1940 in Pommern geboren – da war ihr Vater schon ein Jahr im Krieg. Die Frauen der Familie führten sein Geschäft weiter, sie verkauften Hausrat. In Annas Kindheitserinnerungen taucht die Großmutter mütterlicherseits als »kalte Frau« auf. »Wenn sie uns besuchen kam, sind mein Bruder und ich unter den Tisch gekrochen«, erzählt sie. »Und meine Mutter ist ein Leben lang ihrer Liebe hinterhergelaufen.« Aber Anna weiß nicht, ob die Großmutter immer schon so war oder ob sie durch die Schrecken und Verluste der Flucht ihr Wesen veränderte. Als junges Mädchen sehnte sich Helga Behrend nach einem unabhängigen Leben. Sie machte Abitur und wollte studieren, aber ihre Eltern wollten oder konnten das Geld für ein Studium nicht aufbrin [281] gen. Sie rieten ihr eine Lehre zu machen und einen gut verdienenden Mann zu heiraten. Sie waren nicht altmodisch, ihre Haltung entsprach dem Zeitgeist.
Die »Bleierne Zeit«, so hat die Regisseurin Margarethe von Trotta in ihrem Spielfilm die späten 50er und frühen 60er Jahre genannt. Konrad Adenauer ermahnte bzw. beruhigte das westdeutsche Volk durch Wahlplakate mit dem Aufdruck »Keine Experimente!« Nachdem man es in den Nachkriegsjahren mit Moral und Anstand nicht so genau genommen hatte, ging es nun im sozialen Gefüge wieder sittsam zu. Die uneheliche Geburtenrate erreichte ihren Tiefstand. Es waren die letzten Jahre ohne Antibaby-Pille. Die junge Durchschnittsfamilie hatte zwei oder drei Kinder. Zum letzten Mal kam es zu geburtenstarken Jahrgängen, eine Generation, die später mit dem Etikett »die Baby-Boomer« durchs Leben lief. Für Nachwuchs war also gesorgt. Adenauer sah keinen Anlass, den Renten-Solidarvertrag zwischen den Generationen in Frage zu stellen, was er mit dem Satz bekräftigte: »Kinder gibt es immer.«
Im Unterschied zu ihrem Lebensgefährten Jochen, dem rheinischen Arbeiterkind, wuchs Anna Behrend in Kiel in einer bürgerlichen Familie auf. Ihren Vater, Hartmut Behrend*, Chemiker von Beruf, schildert sie als einen »Wertekonservativen« mit der unverrückbaren Einstellung, der Mann habe der alleinige Ernährer der Familie zu sein. Dass seine Frau, als die beiden Kinder eingeschult waren, eine Halbtagsstelle bei einer Versicherung antrat, empfand er als Makel. Es passte nicht in sein Bild von einer heilen Familie. Dabei war sie alles andere als heil. Der Vater sei früher ein unglaublicher Choleriker gewesen, sagt Anna. Man habe nie genau gewusst, wann er explodierte, man habe sich an keinem Ort im Haus wirklich sicher gefühlt.
[282] Eltern im Dauerstreit
Die Tochter empfand jedes Mal große Erleichterung, wenn ihr Vater das
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