Kriegsenkel
inaktiv« –, und auch hier habe es die Trennung von beruflich und privat gegeben: Von ihrer Verzweiflung sei nur ihre Familie belastet worden. Auch habe sie unzählige Ängste entwickelt, darunter die Angst, Aufzug zu fahren oder in einen Bus zu steigen. Das sei fast 20 Jahre lang so gewesen. In ihrem Beruf sei sie noch einigermaßen mit ihren Einschränkungen klar gekommen, die sie dann in ihrem Privatleben umso stärker behinderten, weshalb sie sich schließlich professionelle Hilfe geholt habe.
Mit Anfang Vierzig begann sie eine Psychoanalyse, in deren Verlauf sich ihre Ängste verabschiedeten. Damals wusste man noch wenig über die Auswirkungen von Traumata. Gabriele Heinen glaubt rückblickend, es habe noch weitere zehn Jahre gedauert, bis sie verstand, dass sie sich in ein funktionierendes und in ein häufig äußerst verzweifeltes Ich aufgespalten hatte. [295] Auf diese Weise habe ihre Psyche versucht, mit den frühen seelischen Verletzungen fertig zu werden, erklärt sie. »Das leistungsfähige Berufs-Ich hatte keine Verbindung zu dem zweiten Ich. Es hatte kein Verständnis für das Ich in Not.«
Die Wahrnehmung des Anderen anerkennen
Erst nach und nach habe sie begriffen, dass ihr unverarbeitetes Trauma, vor allem durch ihr »Nicht anwesend Sein« auch bei ihrem Sohn Bastian Spuren hinterlassen hatte. »Später, als er schon lange erwachsen war, erzählte er mir, wie sehr er unter dem Gefühl gelitten hatte, ich kann die Mutter nicht erreichen. Und ich habe ihm bestätigt: Ja, das war so. Es tut mir leid. Aber es war so.« Sie denkt einen Augenblick nach, dann fügt sie hinzu: »Für Bastian war es sehr wichtig, dass seine Wahrnehmung von mir anerkannt wurde. Es ist mir auch nicht schwer gefallen, das zu sagen.« Auf Grund ihrer Erfahrungen in der Seelsorge weiß sie, wie viel schneller seelische Verletzungen heilen, wenn Mutter und Vater in der Lage sind, ihren erwachsenen Kindern gegenüber zuzugeben, sie als Eltern hätten etwas falsch gemacht. Aber sie weiß auch, wie selten es geschieht. »Dabei würde es schon reichen, wenn Eltern sagen: Ja, du hast es schwer gehabt, und wir haben unseren Teil dazu beigetragen.«
Sie fügt hinzu, zum Glück sei sie früher nicht die einzige Bezugsperson ihres Sohnes gewesen. Ihr Mann, der zu Hause arbeitete, und auch ihre Schwester – beide lebensfroh und einfühlsam – hätten bei Bastian viele von Mutters Versäumnissen ausgleichen können. Aber eben nicht alle. Gabriele Heinen kommt auf eine entscheidende Einsicht zu sprechen: »Als die Ehe meines Sohnes immer schwieriger wurde, erkannte ich: Bastian hatte eine Frau geheiratet, die der Mutter seiner Kindheit glich. Seine Partnerin war depressiv und hatte massive Selbstwertprobleme, genau wie ich früher. Sie war zudem [296] enorm unterstützungsbedürftig. Auch hier ergibt sich eine Ähnlichkeit zu mir: Im Grunde hätte ich im großen Umfang Beistand und Hilfe gebraucht, nur habe ich es mir nicht eingestehen können.« Stattdessen baute sie beruflich das Bild der »Power-Frau« aus. Gabriele Heinen glaubt, es sei für ihren Sohn hilfreich gewesen, als sie ihn während seiner Ehetrennungsphase auf die Parallele zwischen seiner Frau und seiner Mutter hinwies.
Auch Bastian Heinen studierte Theologe, aber anders als seine Mutter entschied er sich für eine Hochschullaufbahn. Auf meine Nachfrage betont die Mutter, ihre Beziehung zum Sohn sei nie schlecht gewesen. Doch ihren Schilderungen entnehme ich: In dem Maße, wie es Gabriele Heinen gelang, Schritt für Schritt ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und sich damit seelisch zu entlasten, verbesserte sich die Mutter-Sohn-Beziehung. Gegenseitiges Verständnis und ihre gemeinsamen Interessen stehen heute im Vordergrund. Im vergangenen Jahr veranstalteten Gabriele und Bastian Heinen während einer Tagung sogar zusammen ein Seminar. »Von den Teilnehmern wurde gesagt, wie sehr es sie verblüfft, dass Mutter und Sohn so gut aufeinander eingespielt sind«, erzählt Gabriele Heinen nicht ohne Stolz. »Unsere Rollen waren genau aufgeteilt. Jeder hat sein berufliches Know-how eingebracht. Wir sind wirkliche Partner gewesen!«
Traumabehandlung mit 15 Jahren Verspätung
Gabriele Heinen ist in vieler Hinsicht eine Ausnahme: eine Frau, die schon in den sechziger Jahren in ihrer Familie die Ernährerrolle übernahm und in der Kirche als Feministin auftrat, und die sich professionelle Hilfe holte, damit ihre Seele heilen konnte. In kleinen Schritten über viele
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