Kriegsenkel
Kinder, Alte und Kranke am stärksten unter kollektiver Gewalt leiden. Das Neue ist: Hier handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machte, aber über Jahrzehnte in der Mehrzahl eben nicht das Gefühl hatte, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen und damit auch der Zugang zu den wichtigsten Prägungen.
Die folgende Aussage stammt von einem 70-jährigen Mann, der bis vor 10 Jahren mit kaum zu steuernden Spannungen und Ängsten durchs Leben lief – ohne zu wissen, woher sie kamen. Er sagte: »Das Schlimme ist, dass man nicht weiß, dass man kriegstraumatisiert ist. Als Kind weiß man das nicht. Auch später hat niemand darüber geredet. So hört der innere Schrecken nie auf – und man beschimpft sich als Erwachsener auch noch dafür.«
Seit den 1970er Jahren, vor allem seit die amerikanische Fernsehserie »Holocaust« gesendet worden war, galt das Thema »Die Deutschen als Opfer« als kulturell nicht mehr erwünscht. In den Medien, an den Schulen, in der Forschung ging es fast ausschließlich um die Fakten und Hintergründe von Hitlerdeutschland, um die Opfer der NS-Verbrechen. Vor diesem [26] Paradigmenwechsel hatten die Deutschen sehr wohl unüberhörbar darüber geklagt, wie sehr sie im Krieg, in der Gefangenschaft, während der Nachkriegsarmut gelitten hatten.
Wie aus Tätern Opfer wurden
Auf diese Weise ging auch die Umetikettierung der Täter zu vermeintlichen Opfern vor sich. Der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen, 1946 geboren, beschreibt, wie sich Väter und Mütter, die sich während der NS-Zeit schuldig gemacht hatten, eine überaus haltbare Loyalität von Seiten ihrer Kinder sicherten: »Es waren ja unsere geliebten Eltern, die uns so entgegentraten, die uns auf den Schoß nahmen und dann vom Krieg erzählten oder beim Zubettbringen oder beim Essen, beim Spielen, bei Familienfeiern …« 4
Die Not und die totalen Verluste der Heimatvertriebenen waren im Westen des geteilten Landes ein unüberhörbares öffentliches Thema (im Osten dagegen überhaupt nicht). Doch es klagten diejenigen, die im Krieg bereits erwachsen gewesen waren – nicht aber deren Kinder. Ihnen wurde bedeutet: »Vergiss alles. Sei froh, dass du lebst. Schau nach vorn«. Daran hat sich die vergessene Generation gehalten. Den meisten Kriegskindern gelang es, vor allem auch durch unermüdliches Arbeiten, ihre Schreckenserinnerungen auf Abstand zu halten. Das bedeutete aber nicht zwangsläufig ein unbelastetes Seelenleben.
Erst seit wenigen Jahren ist »Kriegskinder« eine Generationsbezeichnung. Ihr Schicksal wurde im Jahr 2005 bei dem ersten großen Kriegskinderkongress in Frankfurt öffentliches Thema, und es wurde sichtbar: Natürlich haben frühe Begegnungen mit kollektiver Gewalt Folgen, auch wenn die Betroffenen im späteren Leben nicht spüren, wodurch sie untergründig gesteuert werden. Keine Frage, die Kriegserlebnisse sind sehr unterschiedlich gewesen, und unterschiedlich stark waren die [27] Folgen der frühen Verlust- und Gewalterfahrungen. Wie hoch mag der Anteil derer sein, die Schlimmes erlebten, und derer, die Glück gehabt hatten? Seit diesem Kongress haben sich die Experten weitgehend zu der Einschätzung durchgerungen, eine Hälfte habe eine normale Kindheit gehabt und die andere Hälfte nicht. Weiter heißt es: 25 Prozent erlebten kurzfristig oder einmalig ein Trauma, weitere 25 Prozent waren anhaltenden und mehrfachen traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt. Es wird vermutet, dass die letztere Gruppe unter Spätfolgen litt oder immer noch leidet. Von den Angehörigen der Jahrgänge 1930–1945 leben heute noch 16 Millionen Menschen.
Michael Ermann, der mit seiner Forschungsgruppe an der Universität München die Spätfolgen deutscher Kriegskindheiten untersuchte, geht davon aus, »dass der Weltkrieg und die NS-Zeit ihre Spuren wohl weniger in einer offensichtlichen Labilität, Einschränkung der Lebensbewältigung oder gar klinischen Symptomen hinterlassen haben, sondern dass sie sich eher als Leerstellen ins Identitätsgefühl« eingegraben haben.
Tatsächlich scheint das Erinnerungstabu in den Familien und in der Nachkriegsgesellschaft bei Kriegsende zu einer Identität beigetragen zu haben, die mit vielen unklaren Ahnungen und offenen Fragen verbunden ist: Ahnungen und Fragen über die familiären Biografien, aber auch über sich selbst. Denn solange sie – also die Kriegskinder
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