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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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denken …
    In seinen anschließenden Überlegungen folgert Christoph Seidler: »Es geht offenbar um die Vergewaltigungen der sowjetischen Soldaten bei Kriegsende – wohl das barbarischste, archaischste und demütigendste und schambetonteste aller Siegerrituale. Nach Kriegsende und insbesondere auf Grund der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft mussten diese Verbrechen aber total geleugnet werden. So arbeitete die Sowjet- und DDR-Nachkriegspropaganda den Schamgefühlen natürlich direkt in die Hand, so dass hier wohl die bestgehüteten Tabus lebens- und lustfeindlich implantiert wurden. Weras Verzicht auf Sexualität hat offenbar eine bedrückende und tabuisierte Vorgeschichte.« 8
    Angesichts der Komplexität von Familienidentitäten rechnete ich mir wenig Erfolg aus bei meiner Suche nach Ost-Kriegsenkeln, denen es gelungen war, die Fäden von NS- und Kriegsgeschichte und die der DDR zu entwirren und entsprechende Spuren im eigenen Familiensystem zu benennen. Ich führte ein halbes Dutzend Interviews, aber die Familiengeschichten, die [33] dabei auftauchten, trugen zur Klärung meiner Fragestellung wenig bei. Manchmal zeigte sich auch, dass ich zu wenig über die DDR-Hintergründe wusste und daher zu Fehleinschätzungen kam. Wie auch immer: Ich bewegte mich fast ausschließlich im Spekulativen und kam zu keinem Ergebnis, dass ich guten Gewissens als seriös hätte einstufen können.
    Das Nachbeben
    Es gibt in Deutschland keine Familie, an der der Krieg und die NS-Zeit spurlos vorbeigegangen sind. Der größte Teil der Bevölkerung will das auf sich beruhen lassen. Man sagt: Wir wollen an die alten Familiengeschichten nicht mehr denken und was damals in Deutschland geschah, ist uns ja nun hinreichend bekannt. In der Schule mussten wir uns bis zum Überdruss damit befassen. Es fehlt nicht an Fakten.
    Mag sein. Was aber sicher fehlt, ist ein Verständnis für die Auswirkungen dieser Vergangenheit. Was bedeutet diese Erbschaft für unsere persönliche Identität, für unsere Familienidentität und letztlich auch für unsere gesellschaftliche Identität? Was bedeutet es, in der Schule mit Leichenbergen in KZs konfrontiert worden zu sein, und wie lebte es sich mit der ständigen Bedrohung durch einen Atomkrieg? Auch in anderen Ländern wurde diese Angst empfunden, aber nirgendwo anders war sie so ausgeprägt und, wie wir heute noch besser wissen als damals, so berechtigt. Das ist der Hintergrund, der erklärt, warum ein Jugendbuch – »Die letzten Kinder von Schewenborn« von Gudrun Pausewang –, das im Detail einen Atomkrieg in Deutschland ausmalt, zum Bestseller werden konnte.
    Die Schriftstellerin Tanja Dückers, 1968 geboren, spricht im Zusammenhang mit den Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg von einem Nachbeben. Also nach dem Erdbeben das Nachbeben. Um es neben allen anderen Lebenserschütterungen zu [34] identifizieren, bedarf es einer geradezu seismografischen Wahrnehmung. Rein intellektuell lässt es sich erst recht nicht erfassen. Dennoch: Viele Nachgeborene werden etwas davon spüren, aber sie können es nicht einordnen. Das Erdbeben selbst haben sie ja nicht erlebt.
    Vielleicht nehmen sie etwas anderes bei sich wahr: Sie haben das Gefühl, sie würden ihre Potenziale nicht ausschöpfen. Irgendetwas bremst sie. Die Kinder der Kriegskinder gehören der Altersgruppe an, die am stärksten an psychologischer Hilfe interessiert ist. Den Psychotherapeuten sind die in diesem Buch beschriebenen Schwierigkeiten und Symptome wohlbekannt, weshalb sie zunehmend die Eltern und Großeltern ihrer Patienten mit deren zeitgeschichtlichem Hintergrund in den Blick nehmen. Die Psychotherapeuten sagen: Auffällig bei den heute 40 bis 50-Jährigen ist eine diffuse Identität. Offenbar empfinden sich viele Menschen als unstimmig. Nicht alles lässt sich aus der eigenen Biografie erklären. Der Psychoanalytiker Hartmut Radebold stellt dazu fest: »Die von der 2. an die 3. Generation ›vererbte‹ psychische Erfahrungsgeschichte lässt sich zwar verleugnen, bagatellisieren und bewusst für nichtig erklären – auslöschen lassen sich die Spuren nicht. Die dritte Generation besaß und besitzt allerdings die Chance, sich ihrer eigenen Reaktionen bewusst zu werden, um sie zu reflektieren und gegebenenfalls verändern zu können.« 9
    Wenn Romanschriftsteller und Drehbuchautoren sich für die Schnittstelle zwischen Familienalbum und zeitgeschichtlichem Hintergrund interessieren, dann deshalb, weil sie einer Geschichte und der Hauptfigur

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