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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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trösten. Damit war das Fürsorge-Prinzip zwischen Eltern und ihren Kindern auf den Kopf gestellt worden. Wenn sie nun als Erwachsene ihre Eltern um jeden Preis schonen wollten, setzte sich diese ungesunde Fürsorge fort. Eine meiner Gesprächspartnerinnen kam aus der Loyalitätsfalle nicht mehr heraus und zog ihre Geschichte – »aus Respekt und Liebe zu meiner alternden Mutter« – zurück.
    In meinem Fall war es Mitgefühl für die Kriegskinder gewesen, das mich vor fünf Jahren veranlasst hatte, über sie ein Buch zu veröffentlichen. Nun standen sie nicht mehr an erster Stelle. Dennoch musste ich mir während der Arbeit an dem vorliegenden Buch immer wieder klar machen: Nicht die Kriegskinder sind die Hauptpersonen, sondern die Kriegsenkel – die Erben der vergessenen Generation. Ich schreibe über Menschen, denen die eigenen Eltern unwillentlich Schaden zufügten, und – was die Folgen bis heute so schwer erträglich macht – deren Eltern keine eigene Beteiligung am Unglück ihres Kindes sehen, bzw. die überhaupt kein Unglück wahrnehmen.
    Sie werden in diesem Buch nicht beschuldigt, denn als Traumatisierte konnten sie ihr Handeln nicht richtig einschätzen. Aber sie werden auch nicht geschont. Denn Schonung würde bedeuten, das Schweigen in die nächste Generation weiter zu tragen, wo es erneut Verwirrung und unerklärliche Symptome verursachen könnte.
    Wir hören von Familiengeschichten mit deutlichen Parallelen zwischen den Generationen: Die durch den Krieg belasteten Kinder wurden mit ihrem Leid allein gelassen, und auch viele Kriegsenkel erfuhren, dass ihre Ängste und inneren Nöte von den Eltern nicht ernst genommen wurden. Der Altersforscher und Psychoanalytiker Hartmut Radebold sagt über dieBeziehungen der Kriegskinder zu ihren Kindern: »Wahrscheinlich konnten diese Eltern nur wenig auf die psychischen Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und erwarteten, dass diese angesichts der eigenen bedrückenden Biografie mit ihren so ›durchschnittlichen‹ Problemen und Konflikten in Kindheit und Pubertät selbständig zurechtkämen«. 6
    Eine ostdeutsche Geschichte
    Bis auf wenige Ausnahmen waren über viele Jahrzehnte nicht einmal Psychoanalytiker und Psychotherapeuten in der Lage, sich mit ihrem eigenen frühen Leid als Kriegskinder auseinanderzusetzen. Zehn Jahre nach dem Mauerfall trug der Ostberliner Analytiker Christoph Seidler im Rahmen einer Konferenz mit gleichfalls ostdeutschen Kollegen seine Erfahrungen und Überlegungen zum Thema »Kindheit während des Krieges« vor. Er kam zu dem Schluss, die Kriegskinder könnten vielleicht erst jetzt – nach der Wende und dem Aussterben der Elterngeneration – ihr Recht auf die Trauer um ihre beschädigte Kindheit wahrnehmen. Der Analytiker wurde daraufhin mit heftigem Widerspruch attackiert. Es kam fast zum Eklat. Seidler griff das Ereignis im Jahr 2002 in einem Vortrag auf und erzählte, was nach der Konferenz geschah: »Ich war zunächst entmutigt, verwirrt und auch etwas beschämt. Bereits am nächsten Vormittag rief mich ein befreundeter Kollege an, der sehr heftig gegen meine Auffassung argumentiert hatte. Er entschuldigte sich, es sei so schmerzlich, alles wieder aufzureißen, wo doch endlich Gras über die Sache gewachsen sei. Der Kollege gehört zum Jahrgang 1940 und ist ein Flüchtlingskind aus Königsberg.« Seidler fügte noch hinzu, diese unsachlichen und dabei schmerzhaften Kontroversen bemerke er immer wieder, wenn dieses Thema berührt werde, sei es privat oder öffentlich. 7
    Umso mehr interessierte mich, was Christoph Seidler in einem [32] späteren Tagungsvortrag »Lange Schatten – Die Kinder der Kriegskinder kommen in die Psychoanalyse« über eine Patientin zu berichten wusste: Wera, 1963 geboren, war mit einem Mann verheiratet, der sie ständig betrog. Wera blieb bei ihm, der Kinder wegen, hatte aber mit ihm keine sexuelle Beziehung mehr. Der Höhepunkt der Demütigung war für sie erreicht, als die Familie in den Urlaub nach Ungarn fuhr: Da saß ihr Mann mit seiner Geliebten vorn, und sie, die Ehefrau, mit den Kindern hinten im Fond. Wera hatte mit 19 Jahren ihre Mutter, die an Krebs erkrankt war, verloren. Die Patientin sprach auch von einem dunklen Familiengeheimnis. Eine Tante hatte ihr gesagt, mit der Mutter der Mutter sei etwas ganz Schlimmes im Krieg passiert, vielleicht sogar mit der Mutter selbst. Was genau das Schlimme war, wollte die Tante nicht in Worte fassen, sondern meinte nur, das müsse Wera sich schon selber

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