Kriegswirren
»Sie kommt nicht jeden Tag zum Palast, weil sie gern durch den Schnee läuft. Kommst du mit mir, Min? Vielleicht hast du dort eine Vision.«
Sie war schneller aufgestanden als alle diese Aes Sedai. Ein Besuch bei Cadsuane wäre wahrscheinlich ebenso angenehm wie ein Besuch bei Sorilea, aber alles war besser, als allein hier zu sitzen. Außerdem hätte sie dort vielleicht wirklich eine Vision. Fedwin schloß sich ihnen mit wachsamem Blick an.
Die sechs Töchter des Speers draußen in dem hohen gewölbten Gang erhoben sich, aber sie folgten ihnen nicht. Min kannte nur Somara, die Min kurz zulächelte und Rand einen mißbilligenden Blick zuwarf. Die übrigen blickten lediglich finster drein. Die Töchter des Speers hatten seine Erklärung zunächst akzeptiert, daß er ohne sie gegangen war, um mögliche Beobachter zu der Annahme zu verleiten, er befinde sich noch in Cairhien, aber sie verlangten noch immer zu wissen, warum er nicht im nachhinein nach ihnen geschickt hatte, und Rand hatte keine Antwort gewußt. Er murrte leise etwas und beschleunigte seinen Schritt, so daß Min Mühe hatte mitzuhalten.
»Beobachte Cadsuane genau, Min«, sagte er. »Und Ihr ebenfalls, Morr. Sie verfolgt irgendeinen Aes Sedai-Plan, aber ich sei verdammt, wenn ich erkennen kann, worum es geht. Ich weiß es nicht...«
Eine Steinmauer traf Min anscheinend von hinten. Sie glaubte ein Brüllen, ein Krachen zu hören. Und dann drehte Rand sie um - sie lag auf dem Boden? -und blickte das erste Mal, seit sie sich erinnern konnte, mit Angst in diesen morgenblauen Augen auf sie herab. Sie schwand erst, als sie sich hustend aufsetzte. Die Luft war voller Staub! Und dann sah sie den Gang.
Die Töchter des Speers waren von ihrem Platz vor Rands Türen verschwunden, und auch die Türen selbst waren verschwunden, zusammen mit dem größten Teil der Wand. Eine fast ebenso große, gezackte Öffnung klaffte in der gegenüberliegenden Wand. Trotz des Staubs konnte Min genau in seine Räume schauen, die verheert waren. Überall lagen große Haufen Schutt, und durch ein gähnendes Loch in der darüberliegenden Decke sah man den Himmel. Schnee wirbelte auf die im Schutt tanzenden Flammen herab. Einer der wuchtigen Schwarzholzpfosten von Rands Bett stak brennend in den Trümmern, und sie erkannte, daß sie bis ganz hinaus zu den Stufentürmen blicken konnte, die vom herabfallenden Schnee verschleiert waren. Es war, als hätte ein riesiger Hammer in den Sonnenpalast eingeschlagen. Wenn sie dort drinnen gewesen wären anstatt auf dem Weg zu Cadsuane ... Min erschauderte.
»Was ...?« begann sie unsicher und tat die nutzlose Frage dann ab. Jeder Narr konnte sehen, was geschehen war. »Wer?« fragte sie statt dessen.
Staubbedeckt, das Haar vollkommen wirr und mit Rissen in ihren Jacken, erweckten die beiden Männer den Eindruck, als wären sie den Gang entlang gerollt worden, und vielleicht war dem auch so. Sie befanden sich alle drei gute zehn Schritt weiter als zuvor von der Stelle entfernt, wo die Türen gewesen waren. In der Ferne erklangen besorgte Rufe, die durch die Gänge hallten. Keiner der Männer antwortete ihr.
»Kann ich Euch vertrauen, Morr?« fragte Rand.
Fedwin erwiderte seinen Blick offen. »Ihr könnt mir Euer Leben anvertrauen«, sagte er schlicht.
»Genau das vertraue ich Euch auch an«, sagte Rand. Er strich mit den Fingern über Mins Wange und erhob sich dann jäh. »Beschützt sie mit Eurem Leben, Morr.« Seine Stimme klang stahlhart. Grimmig wie der Tod. »Wenn sie noch immer im Palast sind, werden sie spüren, wenn Ihr ein Wegetor zu gestalten versucht, und Euch angreifen, bevor Ihr es beenden könnt. Lenkt die Macht nicht, wenn es nicht sein muß, aber haltet Euch bereit. Bringt Min zu den Dienstbotenquartieren hinunter und tötet jeden, der zu ihr zu gelangen versucht. Jeden!«
Mit einem letzten Blick zu ihr - oh, Licht, zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie gedacht, sie könnte glücklich sterben, wenn sie diesen Blick in seinen Augen sah! - eilte er im Laufschritt davon, fort vom Ort der Verwüstung. Fort von ihr. Wer auch immer ihn zu töten versucht hatte, würde ihn jagen.
Morr tätschelte mit einer staubigen Hand ihren Arm und grinste sie jungenhaft an. »Macht Euch keine Sorgen, Min. Ich werde auf Euch aufpassen.«
Aber wer würde auf Rand aufpassen? Kann ich Euch vertrauen? hatte er diesen Jungen gefragt, der als einer der ersten gekommen war und darum gebeten hatte, lernen zu dürfen. Licht, wer würde auf ihn
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