Kriminalgeschichte des Christentums Band 01 - Die Fruehzeit
allen Klerikern das Studium der Physik. 1380 untersagt ein französischer Parlamentsbeschluß jede Beschäftigung mit Chemie unter Berufung auf ein Dekret von Papst Johann XXII. Und während in der arabischen Hemisphäre – gemäß Mohammeds Wort: »Die Tinte des Schülers ist heiliger als das Blut der Märtyrer« – die Wissenschaft, zumal die Medizin, blüht, änderten sich deren Grundlagen in der katholischen Welt nicht wesentlich durch mehr als ein Jahrtausend, bis ins 16. Jahrhundert. Die Kranken sollten lieber zum Gebet als zu Ärzten Zuflucht nehmen. Das Sezieren von Leichen war durch die Kirche verboten. Der Gebrauch natürlicher Heilmittel galt oft als strafwürdiger Eingriff in den Bezirk des Göttlichen. Selbst große Abteien hatten im Mittelalter keine Ärzte. 1564 verurteilte die Inquisition den Arzt Andreas Vesalius, den Begründer der neueren Anatomie, zum Tod, weil er eine Leiche zerlegt und festgestellt hatte, daß dem Mann die Rippe, aus der Eva stamme, gar nicht fehle. 29
Mit der bildungspolitischen Bevormundung kohäriert die kirchliche Zensur, die häufig – seit dem Wirken des Paulus in Ephesus – bis zum Verbrennen gegnerischer Bücher ging, heidnischer, jüdischer, sarazenischer Schriften, der Vernichtung (oder dem Verbot) christlicher Konkurrenzliteratur, des Arius, des Nestorius, bis hin zu der Luthers. Doch stellten auch die Protestanten zeitweise alles unter Zensur, selbst viele Leichenpredigten, ja, alle nichttheologischen Werke, sofern sie kirchliche, religiöse oder sittliche Fragen berührten.
Dies sind nur einige wichtigere Themen, um die es mir in dieser Kriminalgeschichte geht. Und doch ist meine Geschichte hier nur ein winziger Ausschnitt aus der ganzen Geschichte.
Geschichte!
Napoleon nannte sie eine Fabel, Henry Ford Geschwätz, Carlyle ein Destillat von Gerüchten, Seume – so lesenswert, so selten gelesen! – meistens die Schande des Menschengeschlechts. Und ich ergänze: der sicherste Beweis für dessen falsche Erziehung. Unbestreitbar: das komplexeste und komplizierteste, weil alles umgreifende und integrierende Phänomen der menschlichen Welt, die Geschichte von Individuen und Völkern, in jedem Augenblick ein gigantischer Schwall, Zeitgenossen wie Nachwelt meist unbekannter Momente, Gefühle, Gedanken, Ereignisse, Voraussetzungen der Ereignisse, Wiedergabe der Ereignisse, ein nicht einmal zu erahnendes Tohuwabohu verflossener Vorgänge, ein verwirrendes Geflecht von Gesellschafts- und Rechtsformen, Normvorstellungen, Rollenerwartungen, Bewußtseins- und Verhaltensweisen, von vielerlei heterogenen oder antagonistischen Lebensrhythmen, von denkerischen Einflüssen, geopolitischen Faktoren, ökonomischen Prozessen, Klassenstrukturen, das Klima und seine Schwankungen gehören ebenso dazu wie die Statistik der Geburten, die Sklaverei ebenso wie Bach-Konzerte, die Bartholomäusnacht, das Glücksspiel ebenso wie Preisstürze, ekklesiogene Neurosen, die Prostitution, Parlamentsdebatten und Vivisektion, päpstliche Enzykliken und Strafvollzug, der Verkehr, die Mode und noch die durch die Psychoanalyse aufgezeigten unbewußten Motivierungsströme, die analytische Sozialpsychologie oder die Geschichtsschreibung sowie die Geschichte der Geschichtswissenschaft, kurz, mit Max Weber: ein »ungeheuer chaotischer Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt«; mit Droysen:
die
Geschichte über allen Geschichten. 30
Gibt es in diesem unheimlich fortbrodelnden Menschheitswirrwarr etwas Beständiges? Irgendeinen ruhenden Punkt in der Erscheinungen Flucht? Gibt es etwas, das immer wiederkehrt, unverändert bleibt?
Nun, sicher ist dies nicht die Rolle, die schon Cicero der historia zuweist als magistra vitae. Doch ist es das Gegenteil? Ist das einzige, das Erfahrung und Geschichte lehren, »dies, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben«? Fast jedes gewichtigere Wort Hegels reizt mich zum Widerspruch, und auch dieses stimmt nur von den Völkern. Denn die Regierungen
haben
aus der Geschichte gelernt, und das so erfolgreich, daß die einzige Kunst, der bis heute nichts Neues einzufallen braucht, die Staatskunst ist – soweit wir zurückschauen können.
Gehen wir einmal von der Gegenwart aus.
Jeder Mensch kann ja Geschichte nicht nur nachlesen, sondern auch miterleben durch den Augenschein – gewiß weniger direkt wieder mittels der »Wirklichkeit« als der
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