Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
gesamte 10 Kilometer lange neue Eisenbahnlinie von Balaklawa zu den Verladerampen in der Nähe des britischen Lagers vollendet. Das war genau rechtzeitig für den Transport der gerade eingetroffenen schweren Geschütze und Mörsergranaten, die auf Raglans Befehl von Balaklawa auf die Anhöhen geschafft werden sollten – als Teil der Vorbereitungen für eine zweite Bombardierung von Sewastopol, die nach Absprache der Alliierten am Ostermontag, dem 9. April, beginnen sollte. 43
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Der Plan sah vor, Sewastopol durch ein zehn Tage anhaltendes Bombardement und einen anschließenden Angriff auf die Stadt zu überwältigen. Da nun 500 französische und britische Geschütze rund um die Uhr auf Sewastopol feuerten, fast zweimal so viele wie bei dem ersten Beschuss im Oktober, war dies nicht nur das schwerste Bombardement der Belagerung, sondern sogar das bis dahin schwerste der Geschichte überhaupt. Die alliierten Soldaten, die ein Ende des Krieges herbeisehnten, setzten große Hoffnung in die Aktion und warteten ungeduldig auf ihren Beginn. »Die Arbeiten gehen wie immer weiter, und wir machen kaum Fortschritte!«, schrieb Herbé seinen Angehörigen am 6. April. »Die Ungeduld der Offiziere und Soldaten verursacht einen gewissen Missmut. Einer lastet dem anderen die Fehler der Vergangenheit an, und man spürt, dass nun ein energischer Durchbruch erforderlich ist, um die Ordnung wiederherzustellen … Die Dinge können nicht mehr lange so weitergehen.« 44
Die Russen wussten von den Vorbereitungen für die Offensive. Deserteure aus dem alliierten Lager hatten sie gewarnt, und sie konnten sich mit eigenen Augen von der Geschäftigkeit in den Redouten des Feindes überzeugen, wo täglich neue Kanonen auftauchten. 45 In der Nacht des Ostersonntags, ein paar Stunden bevor der Beschuss beginnen sollte, hatte man Bittgottesdienste in sämtlichen Kirchen der Stadt abgehalten. Auch in den Bastionen wurde gebetet. Pfarrer schritten mit Ikonen an den russischen Verteidigungsstellungen entlang, unter anderem mit der Ikone des heiligen Sergi, die auf Befehl des Zaren vom Dreifaltigkeitskloster in Sergijew Possad auf die Krim geschickt worden war. Sie hatte die ersten Romanows auf ihren Feldzügen begleitet und sich 1812 bei der Moskauer Miliz befunden. Alle waren sich der überragenden Bedeutung dieser heiligen Rituale bewusst. Die meisten erwarteten, dass das Schicksal der Stadt durch göttliche Vorsehung entschieden werden würde – ein Gefühl, das sich verstärkte, weil beide Seiten gleichzeitig das Osterfest feierten, das in jenem Jahr im orthodoxen und römischen Kalender auf denselben Tag fiel. »Wir beteten voller Inbrunst«, schrieb eine russische Krankenschwester. »Wir beteten mit aller Macht für die Stadt und uns selbst.«
Bei der Mitternachtsmette in der Hauptkirche, die so hell mit Kerzen erleuchtet war, dass man es von den Schützengräben des Feindes aus sehen konnte, strömte eine riesige Menschenmenge hinaus auf die Straßen und blieb in stummem Gebet stehen. Jeder hielt eine Kerze und verbeugte sich hin und wieder, um sich zu bekreuzigen; viele knieten auf dem Boden, während Priester mit Ikonen vorbeischritten und der Chor sang. Mitten in der Nacht brach ein heftiger Sturm los, und Regen prasselte vom Himmel. Aber niemand rührte sich, denn alle dachten, der Sturm sei ein Werk Gottes. Die Betenden blieben draußen im Regen, bis das Bombardement im Morgengrauen begann. Danach verteilten sie sich, immer noch in ihrer besten Osterkleidung, um bei der Verteidigung der Bastionen zu helfen. 46
Ein weiterer Sturm ereignete sich an jenem Morgen. Er wütete so sehr, dass laut Whitworth Porter, der die Beschießung von den Anhöhen beobachtete, das Dröhnen der ersten Geschütze »vom Heulen des Windes und dem monotonen Plätschern des Regens, der mit unverminderter Gewalt herunterprasselte, fast übertönt wurde«. Sewastopol war völlig in schwarzen Kanonenrauch und in den Morgennebel gehüllt. In der Stadt konnten die Menschen nicht erkennen, woher die Bomben und Granaten kamen. »Wir wussten, dass eine enorme alliierte Flotte direkt vor uns am Hafeneingang lag, aber wir konnten sie durch den Rauch und Nebel, den peitschenden Wind und strömenden Regen nicht sehen«, schrieb Jerschow. Scharen von verwirrten und verängstigten Menschen rannten schreiend auf der Suche nach Deckung durch die Straßen, viele davon in Richtung Fort Nikolaus, dem einzigen noch vergleichsweise sicheren Ort, der nun zu einem
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