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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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er grollend behauptet hatte, er werde als Kanonenfutter behandelt, vertraute er seinem Tagebuch an: »Der ständige Reiz der Gefahr und das Zusammenleben mit den Soldaten, der Kontakt mit den Seeleuten und überhaupt der Kriegsalltag gefallen mir so sehr, daß ich gar nicht von hier fort will … « Er entwickelte eine enge Beziehung zu seinen Kampfgefährten in der Bastion, von denen einer ihn später als »guten Kameraden« beschrieb, dessen Geschichten »unser aller Geist im Schlachtgetümmel einfingen«. In einem Brief an seinen Bruder brachte Tolstoi einen Gedanken zum Ausdruck, der Krieg und Frieden zugrunde liegen sollte: Ihm »gefiel die Erfahrung, unter Feuer [mit diesen] einfachen und freundlichen Männern, deren Güte in einem wirklichen Krieg offenkundig ist, zusammenzuleben«. 50
    Zehn Tage hielt der Beschuss ohne Unterbrechung an. Am Ende zählten die Russen 160 000 Granaten und Bomben, die Sewastopol getroffen, Hunderte von Gebäuden zerstört sowie 4712 Soldaten und Zivilisten verwundet oder getötet hatten. Freilich blieben auch die Alliierten nicht ungeschoren. Die Russen wehrten sich mit 409 Geschützen und 57 Mörsern und feuerten in den zehn Tagen ihrerseits 88 751 Kanonenkugeln und Granaten ab. Bald aber wurde deutlich, dass ihnen die Munition fehlte, um den Widerstand aufrechtzuerhalten. Den Batteriekommandeuren war befohlen worden, jeweils einen Schuss für zwei Schüsse des Feindes abzugeben. Hauptmann Edward Gage von der Royal Artillery schrieb am Abend des 13. April nach Hause:
    Die Verteidigung, was weitreichende Kanonenkugeln betrifft, ist so hartnäckig wie das Ungestüm ihres Angriffs, und alles, was Genie & Mut bewerkstelligen können, ist unübersehbar an den Russen. Man darf jedoch nicht verkennen, dass ihr Feuer vergleichsweise schwach ist, obwohl die Auswirkungen für unsere Schützen schmerzlich sind. Wir haben mehr Verluste erlitten als während der letzten Belagerung, aber wir hatten mehr Männer & Batterien im Einsatz … Ich glaube nicht, dass das Feuer viel länger als einen weiteren Tag andauern wird, denn die Männer sind völlig ermattet, nachdem sie seit der Eröffnung des Feuers täglich 12 Stunden in den Schützengräben verbracht haben; menschliches Fleisch & Blut können dies nicht mehr lange aushalten. 51
    Durch die Beschränkung des russischen Feuers wurde den Alliierten, deren Geschosshagel immer weiter zunahm, die Initiative überlassen. Der Mamelon und die Fünfte Bastion wurden fast völlig zerstört. Die Russen, die einen Angriff erwarteten, verstärkten ihre Garnisonen in aller Eile und beorderten die meisten ihrer Verteidiger in die unterirdischen Bunker, damit sie den anstürmenden Feind überfallen konnten. Aber der Angriff blieb aus. Vielleicht wurden die alliierten Befehlshaber durch den hartnäckigen, tapferen Widerstand der Russen abgeschreckt, die ihre ramponierten Bastionen unter schwerem Beschuss wiederaufbauten. Zudem waren die Alliierten untereinander uneins. In ebendieser Phase begann Canrobert seine Enttäuschung offen zu zeigen. Er befürwortete die neue alliierte Strategie, die vorsah, die Beschießung von Sewastopol zu reduzieren, um die Krim als Ganzes zu erobern. Insofern widerstrebte es ihm, seine Männer für eine Attacke einzusetzen, die zahlreiche Verluste zur Folge haben und dementsprechend den neuen Plan beeinträchtigen würde. Außerdem wurde er durch seinen Chefingenieur, General Adolphe Niel, von einem Angriff abgehalten, denn Niel hatte Geheiminstruktionen aus Paris erhalten: Man solle die Aktion gegen Sewastopol verzögern, bis Kaiser Napoleon (der zu dem Zeitpunkt immer noch eine Reise auf die Krim erwog) eintraf und persönlich den Befehl über die Offensive übernahm.
    Da die Briten nicht allein handeln wollten, beschränkten sie sich in der Nacht des 19. April auf einen Ausfall gegen die russischen Gewehrstellungen am Ostrand der Woronzow-Schlucht, welche die Alliierten daran hinderten, ihre Gräben zum Redan vorzutreiben. Die Stellungen wurden nach schweren Gefechten vom 77. Regiment besetzt, doch der Sieg hatte seinen Preis: den Verlust des Kommandeurs Oberst Thomas Egerton, eines Hünen von über zwei Meter Größe, und seines Stellvertreters, des 23-jährigen Hauptmanns Audley Lemprière, der weniger als 1,50 Meter groß war, wie Nathaniel Steevens, der die Kämpfe miterlebte, am 23. April in einem Brief an seine Familie ausführte:
    Unser Verlust war schwer, 60 Mann getötet & verwundet, dazu 7 Offiziere, von denen

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