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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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geschäftigen Ghetto innerhalb Sewastopols wurde. Im Stadtzentrum stieß man auf zahlreiche ausgebombte Häuser. Die Straßen waren voller Schutt, zerbrochenem Glas und Kanonenkugeln, die »wie Gummikugeln herumrollten«. Jerschow beobachtete überall kleine menschliche Dramen:
    Ein kranker alter Mann wurde auf den Armen seines Sohnes und seiner Tochter durch die Straßen getragen, während Kanonenkugeln und Granaten um sie herum explodierten – eine alte Frau folgte ihnen … Ein paar junge Frauen, hübsch herausgeputzt, lehnten am Geländer der Galerie und tauschten Blicke mit einer Gruppe Husaren aus der Garnison. Neben ihnen waren drei russische Kaufleute in ein Gespräch vertieft; sie bekreuzigten sich jedes Mal, wenn eine Bombe detonierte. »Herr! Herr! Das ist schlimmer als die Hölle!«, hörte ich einen von ihnen sagen.
    In der Adelsversammlung, dem wichtigsten Lazarett, bemühten sich Krankenschwestern, die Verwundeten, die zu Tausenden eintrafen, zu versorgen. Im Operationssaal fuhren Pirogow und die anderen Chirurgen selbst dann noch fort, Gliedmaßen zu amputieren, als eine Mauer nach einem Volltreffer einstürzte. Die Alliierten machten nicht den geringsten Versuch, die Krankenhäuser der Stadt zu schonen. Sie beschossen Sewastopol wahllos, und unter den Verwundeten waren viele Frauen und Kinder. 47
    In der Vierten Bastion, die während der gesamten Belagerung am stärksten gefährdet war, »schliefen [die Soldaten] fast nie«, wie Hauptmann Lipkin, einer der Batteriekommandeure, seinem Bruder am 31. April mitteilte. »Allerhöchstens konnten wir uns ein paar Minuten Schlaf in voller Uniform und mit Stiefeln leisten.« Das Bombardement durch die alliierten, nur wenige hundert Meter entfernten Geschütze war unaufhörlich und ohrenbetäubend. Die Bomben und Granaten gingen so rasch nieder, dass sich die Verteidiger vor dem Einschlag keiner Gefahr bewusst waren. Eine falsche Bewegung konnte zum Verhängnis werden. Das Leben unter ständigem Beschuss brachte eine neue Mentalität hervor. Jerschow, der die Bastion während des Bombardements aufsuchte, fühlte sich »wie ein unerfahrener Reisender, der eine andere Welt betritt«, obwohl er selbst ein gestandener Artillerist war. »Alle liefen hin und her, überall schien Verwirrung zu herrschen; ich konnte nichts verstehen oder erkennen.« 48
    Tolstoi kehrte inmitten der Beschießung nach Sewastopol zurück. Er hatte die Bomben vom 12 Kilometer entfernten Fluss Belbek gehört, wo er den Winter in dem Lager der 11. Artilleriebrigade verbracht hatte. Nach seiner Entscheidung, dass er der Armee am besten mit der Feder dienen könne, hatte er, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben, den Antrag gestellt, General Gortschakows Stab als Adjutant zugeteilt zu werden. Doch zu seiner Verärgerung wurde er mit seiner Batterie ins Schlachtgetümmel zur Vierten Bastion versetzt. Er beklagte sich in seinem Tagebuch: »In diesen Tagen sehr, sehr wenig … geschrieben; daran sind Schnupfen und Fieber schuld. Außerdem macht mich – besonders jetzt, da ich krank bin – wütend, daß niemand auch nur an die Möglichkeit denkt, aus mir könne etwas anderes werden als chair à canon [Kanonenfutter], und dazu das allernutzloseste.«
    Sobald aber Tolstoi die Erkältung überwunden hatte, stieg seine Stimmung, und er fand Gefallen an seiner Arbeit. An vier von acht Tagen war er als Quartiermeister in der Bastion tätig. Außer Dienst, hielt er sich in einer bescheidenen, doch sauberen Unterkunft am Boulevard von Sewastopol auf, wo er die Militärkapelle spielen hörte. War er aber im Dienst, so schlief er in der Kasematte; seine kleine Zelle war mit einem Feldbett, einem mit Papieren übersäten Tisch, dem Manuskript seiner Erinnerungsnovelle Jugendzeit , einer Uhr und einer Ikone mit ewigem Licht ausgestattet. Ein Fichtenpfahl stützte die Decke, unter der ein Segeltuch hing, das fallendes Geröll auffangen sollte. Während seiner gesamten Dienstzeit in Sewastopol wurde Tolstoi von einem Leibeigenen namens Alexej begleitet, der seit seinen Universitätstagen bei ihm war (er tritt in mehreren von Tolstois Werken als »Aljoscha« auf). Wenn Tolstoi seinen Pflichten in der Bastion nachging, brachte Alexej ihm seine Verpflegung aus der Stadt – eine sehr gefährliche Aufgabe. 49
    Die Kanonade ging pausenlos weiter. Täglich landeten 2000 Granaten auf der Bastion. Tolstoi hatte Angst, doch er verdrängte seine Furcht bald und entdeckte einen neuen persönlichen Mut. Zwei Tage nachdem

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