Kristall der Macht
noch darauf reingefallen.« Noelani ließ beschämt den Kopf hängen. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen.«
»Nun, ich würde sagen, dann bist du auf dem besten Weg.«
»Wie meinst du das?«
»Weißt du das nicht?« Kaori schaute Noelani verwundert an. »Hat die alte Maor-Say dich den Zauber etwa gelehrt, ohne mit dir darüber zu sprechen, wie er gelöst werden kann?«
»Ja.« Noelani nickte. »Sie starb vor der Zeit. Vielleicht wollte sie es mir noch sagen, kam aber nicht mehr dazu. Vielleicht aber auch nicht. Dieser Zauber hatte auf Nintau nie eine andere Bedeutung als die, den Dämon in seiner Steingestalt zu bewahren – für immer. Ihn für etwas anderes zu verwenden, wäre undenkbar gewesen.« Sie schaute ihre Schwester eindringlich an. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich rechtzeitig eine neue Maor-Say benennen muss, damit der Zauber bestehen bleibt, wenn ich einmal nicht mehr bin.«
»Aber dann weißt du doch, wie man ihn auflöst.« Kaori zögerte, dann sagte sie: »Der Zauber verliert seine Kraft, wenn du stirbst und keine Nachfolgerin da ist, die dein Amt übernehmen kann.«
Noelani überlegte kurz. »Aber ich bin tot«, sagte sie schließlich. »Und trotzdem sind alle noch versteinert.«
»Du bist hier nur in einer Zwischenwelt«, sagte Kaori. »Und du bist offensichtlich auch nicht tot. Das bist du erst, wenn du in das Licht gegangen bist.«
»Und wie komme ich da hin?« Noelani war so beschämt über das, was sie angerichtet hatte, dass sie den Rakschun am liebsten sofort ihr Leben zurückgegeben hätte – auch wenn ihr eigenes auf diese Weise endete.
»Das wissen nur die Götter.« Kaori schüttelte den Kopf. »Es geschieht einfach. Von allein. Ich vermute aber, die Götter haben entschieden, dass deine Zeit noch nicht gekommen ist.«
»Heißt das, ich kann gar nichts tun, um meinen Fehler wiedergutzumachen?«
»Im Augenblick nicht. Ich bin aber sicher, dass ein tieferer Sinn darin liegt, dass du hier bist. Wer immer darüber bestimmt, was uns widerfährt, verfolgt damit ein ganz bestimmtes Ziel. Auch wenn wir es jetzt noch nicht erkennen, muss es etwas mit dem …« Kaori brach ab, weil Bewegung in das Heer der Rakschun kam. Rufe wurden laut, und die Krieger strebten auseinander, als ob dort gerade etwas Beängstigendes geschah.
»Was ist da los?«, fragte Noelani.
»Einige der Rakschun sind verschwunden.«
»Sie verschwinden? Wohin?« Noelani verstand nun gar nichts mehr.
»Sieh mal, da unten«, sagte Kaori, ohne auf die Frage einzugehen, und deutete auf eines der Zelte, vor dem ein Krieger aus Baha-Uddin gerade dabei war, einen versteinerten Wachtposten mit einer Axt in Stücke zu schlagen. »Dieser Krieger ist so voller Hass, dass er die Steinfigur zerstört, so wie du es auch mit den fünf Jungfrauen getan hast.«
»Was geschieht dann?«, wollte Noelani wissen.
»Dann gehen die Geister der zerstörten Statuen ins Licht.«
»Nein!«, rief Noelani aus. »Das darf nicht sein. Sie dürfen nicht sterben. Ich möchte ihnen doch helfen, sonst hat Azenor gewonnen.« Noelani fühlte sich noch hilfloser als zuvor. »Ich muss zurück, Kaori!«, sagte sie bestimmt. »Ich muss versuchen, das Wüten aufzuhalten, ehe die Krieger das ganze Heer zertrümmern.«
»Aber das ist unmöglich.« Kaori schüttelte den Kopf. »Für uns gibt es kein Zurück.«
»Vielleicht doch.« Noelani kramte fieberhaft in ihren Erinnerungen. Vage glaubte sie sich daran zu erinnern, was die Maor-Say ihr damals für den Fall geraten hatte, dass die Verbindung zu ihrem Körper bei einer Geistreise einmal reißen sollte. Und dann fand sie es.
»Komm mit«, sagte sie zu Kaori und war schon auf dem Weg zurück über das Lager und den Fluss hinweg zu dem Zelt, in dem ihr Körper darauf wartete, dass sich die Totengräber um ihn kümmerten.
Was sie kurz darauf auf dem Lager vorfand, schien nicht mehr zu sein als die abgestreifte Haut einer Schlange. Eine Hülle, bar jeden Lebens, dazu bestimmt, den Weg des Verfalls zu gehen. Als sie die Hülle zaghaft berührte, war das Gefühl kalt und fremd. Noelani schluckte trocken. Es ist zu spät, dachte sie niedergeschlagen. Ich bin zu lange fort gewesen. Es gibt nichts mehr, an das ich die pulsierende Energie des Lebensfadens anknüpfen könnte …
… andererseits bin ich noch hier und nicht in dem Licht, von dem Kaori gesprochen hat. Dann kann ich nicht tot sein. Irgendwo in dieser so leblos wirkenden Hülle muss es
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