Kristall der Macht
Seite schwebten die Schwestern über den Gonwe, den die Krieger von Baha-Uddin scharenweise auf den Flößen der Rakschun überquerten. Entsetzt und bestürzt zugleich musste Noelani mit ansehen, was aus dem Zauber erwachsen war, den sie in gutem Glauben gewoben hatte.
»Betrogen«, sagte sie fassungslos. »Er hat mich betrogen.«
»Das kann man wohl sagen.« Kaori schwebte höher hinauf, bis sie über die Zelte der Rakschun hinweg auf eine freie Fläche im Norden blicken konnten. »Sieh, was du angerichtet hast.«
»Bei den Göttern!« Unfähig zu glauben, was sie da sehen musste, starrte Noelani auf die abertausend bleichen Gestalten, die sich auf dem Feld versammelt hatten. »Sind das alles …«
»Rakschun!« Kaori nickte. »Du hast sie alle versteinert.«
»Aber zwischen den Zelten ist kaum jemand zu sehen.«
»Weil sie geschlafen haben.« Kaori deutete auf eines der Rundzelte. »Willst du es sehen?«
»Nein.« Noelani wusste, dass sie den Anblick nicht würde ertragen können. »Aber das … das ist unmöglich.« Sie spürte wilde Panik in sich aufsteigen. »Da muss etwas schiefgelaufen sein. Die … die Krieger hatten genaue Anweisungen, wo sie die Kristalle ablegen sollten. Keine Toten, so war es abgemacht.« Noelani schaute ihre Schwester flehend an. »Das … das wollte ich nicht. Du musst mir glauben.«
»Das weiß ich.« Kaori schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Aber ich weiß noch mehr. Ich war dabei, als der König Fürst Rivanon unter vier Augen den vertraulichen Befehl gab, die Kristalle an eine andere Stelle zu legen. Nur deshalb hat er General Triffin des Kommandos enthoben, denn Triffin gilt als ein ehrenhafter Mann, der sein Wort hält. Er hätte dich niemals so hintergangen.
Ich war auch dabei, als Fürst Rivanon seinem Diener den Kelch mit Wein reichte, der ein Schlafmittel für den General enthielt. So sehr fürchtet er ihn, dass er ihn für die Nacht außer Gefecht setzen musste. Ich habe gehört, wie Rivanon den Kriegern neue Befehle für die Lage der Kristalle erteilte, bevor sie das Boot bestiegen. Und ich weiß, dass er ihnen das Versprechen abnahm, es dir nicht zu sagen. Ich war auch dabei, als die …«
»Du … du wusstest das alles?« Mit einer Mischung aus Empörung, Wut und Verachtung starrte Noelani ihre Schwester an. »Warum hast du mich nicht gewarnt?«
»Weil ich dich nicht erreichen konnte.« Kaori erwiderte den Blick so unendlich traurig, dass Noelani ihr nicht böse sein konnte. »Es war wie bei dem Sturm auf den Booten. Ich sah das Unheil kommen und konnte nichts tun, weil du keine Geistreise mehr unternommen hast. Bei den Göttern, ich habe wirklich alles versucht. Aber ich bin ein Geist, und die Welt der Lebenden ist mir verwehrt …«
»Und ich habe fest daran geglaubt, dass der König sein Wort hält.« Noelani war tief erschüttert. »Ich war so sicher, dass ich diesmal alles bedacht habe, und dann habe ich schon wieder versagt?«
»Es war nicht dein Fehler«, sagte Kaori. »Du wolltest die Rakschun schützen, aber der König hat dich betrogen und ausgenutzt. Er ist kein guter Mensch. Er ist verblendet in seinem Hass und verfolgt seine Ziele rücksichtslos und ohne Gnade. Er ist geradezu besessen davon, einen endgültigen Sieg über seine Feinde zu erringen. Ein Ziel, das schon sein Vater und sein Großvater verfolgt haben. Dabei haben die Rakschun ein angestammtes Recht darauf, in Baha-Uddin zu leben, denn einst gehörte ihnen das Land zwischen der Küste und dem Gonwe. Azenors Großvater war es, der sie von dort in blutigen Gemetzeln vertrieben hat, um im ganzen Land und im Delta des Flusses ungestört nach Gold suchen zu können.«
»Woher weißt du das?«, wollte Noelani wissen.
Kaori deutete mit einem Kopfnicken auf das Geisterheer. »Von ihnen.«
»Du … du hast mit ihnen gesprochen?«
»Warum nicht? Ich kannte die Ansichten des Königs und wollte auch die der anderen Seite hören. Es ist schon erstaunlich, wie viele Lügen und Halbwahrheiten sich in den Köpfen der Menschen festsetzen, wenn ein Zwist über eine so lange Zeit ausgetragen wird. Da werden Gerüchte zu Tatsachen und die Wahrheit so lange verfälscht, bis sie den Mächtigen einen Grund liefert, um ihre Pläne durchzusetzen.« Kaori seufzte. »Ich fürchte, was man sich heute auf beiden Seiten erzählt, enthält nur noch einen Kern der Wahrheit. Alles andere wurde munter hinzugedichtet und abgeändert, bis es den Interessen der Herrschenden dienlich war.«
»Und ich bin auch
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