Kristall der Macht
schritt schneller aus und reckte den Kopf, um über die Büsche hinweg einen Blick auf die Wiese zu erhaschen. Die ganze Zeit über hatte sie sich ausgemalt, was sie am Dämonenfels erwarten würde. Ein verlassener Ruheplatz, aufgewühltes Erdreich, zerstörte Statuen, geknicktes Strauchwerk … all das war ihr in den Sinn gekommen, aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus: Auf der Wiese hatte sich nichts verändert.
Nichts!
Noelani blieb stehen und fuhr sich mit der Hand über die Augen, doch das Bild änderte sich nicht. Der Dämon lag wie seit Generationen an seinem Platz, von Moos, Ranken und kleinen Blattgewächsen halb überwuchert, reglos und stumm. Die versteinerten Jungfrauen standen so unerschütterlich um ihn herum wie am ersten Tag. Keine von ihnen wirkte beschädigt, und nirgends konnte Noelani Anzeichen dafür erkennen, dass jemand versucht hatte, die Kristalle aus dem Stein zu entfernen. Alles war wie immer – und doch war es völlig anders.
Noelani blinzelte verwirrt. Der Ruheplatz des Luantar war einer der wenigen Plätze auf Nintau, den die Katastrophe nicht erreicht hatte. Drei Schwarznasenäffchen, die sich an den Früchten auf dem Opferaltar gütlich taten, und das aufgeregte Gezwitscher einer Gruppe von rotköpfigen Naras kündeten davon, dass sich einige Tiere auf dem Berg hatten in Sicherheit bringen können – dass nicht alles verloren war. Aber gerade das war es, was Noelani stutzig machte.
Wenn der Dämon schuld an dem Unglück war, müsste hier alles seinen Anfang genommen haben. Die Wut und Zerstörungskraft der entfesselten Bestie hätte deutliche Spuren hinterlassen müssen. Die Statuen der Jungfrauen, die den Dämon damals überlistet hatten, wären von ihm gewiss zerstört worden, und nur ein Trümmerhaufen aus Geröll und entwurzelten Pflanzen hätte noch davon gekündet, wo der Luantar geruht hatte.
Aber so …?
Noelani setzte sich auf einen Felsen, starrte erst den versteinerten Dämon und dann die Jungfrauen an und schüttelte den Kopf. Sie hätte erleichtert sein müssen, dass sich hier nichts verändert hatte, denn wenn der Dämon noch schlief, bedeutete das, dass sie keine Schuld an dem Unglück traf. Aber sie war es nicht – im Gegenteil. Sie war noch beunruhigter als zuvor. Das Bild, das sich ihr hier bot, wollte so gar nicht zu dem passen, was die Bediensteten berichtet hatten, und auch nicht zu der Überlieferung, in der es hieß, der Dämon trage die Schuld an der verheerenden Katastrophe von damals.
War am Ende alles eine Lüge? Ein Irrtum? Noelani runzelte die Stirn. Was immer zuvor geschehen war, an diesem Morgen hatte der Dämon nichts mit dem Unglück und dem hundertfachen Sterben zu tun, das Nintau heimgesucht hatte, so viel war sicher. Und wenn ein anderer Luantar gekommen war? Vielleicht hatte er eine Mutter, die all die Jahrhunderte nach ihm gesucht hatte? Vielleicht hatte sie ihn in der vergangenen Nacht hier entdeckt und Rache genommen für das, was man ihm angetan hatte? War es nicht möglich, dass auch Dämonen Familienbande pflegten? Je länger Noelani darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien ihr die Möglichkeit, und sie spürte ein lähmendes Entsetzen in sich, als sie begriff, welch folgenschweren Fehler ihr Volk gemacht hatte: Wie hatten sie nur annehmen können, dass es nur diesen einen Dämon gab?
Je weiter sie dem Gedanken folgte, desto mehr schlich sich ein anderes Gefühl in ihre Trauer: Wut. Wut auf alle, die damals so kurzsichtig gehandelt hatten. Auf die Maor-Say, die brav die Traditionen gepflegt hatten, ohne sie zu hinterfragen, und Wut auf sich selbst, weil auch sie nicht klüger gewesen war als die Maor-Say vor ihr. Wie alle hatte sie den Überlieferungen blind vertraut und geglaubt, es genüge, die alten Riten und Gebräuche zu pflegen, ohne zu bedenken, dass die Welt nicht nur aus dieser Insel bestand und dass es dort draußen auch noch andere Gefahren – und Dämonen – geben konnte.
Und jetzt ist es zu spät! Zu spät …
Noelani ballte die Fäuste und schnappte nach Luft. Wut und Trauer vereinten sich in ihr zu einem Sturm von Gefühlen, der in ihren Eingeweiden wütete wie ein wildes Tier. Ihr Herz raste, und ihr Atem ging stoßweise, während Trauer und Wut ihr einen Ring um die Brust legten, der sich langsam immer enger zog und sie zu ersticken drohte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie sprang auf, stürmte auf die erste der steinernen Jungfrauen zu und versetzte dieser einen so heftigen Stoß,
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