Kristall der Macht
als trage sie allein die Schuld an dem Unglück, das die Insel heimgesucht hatte.
»Ihr habt lange genug über den Dämon gewacht«, rief sie unter Tränen, während sie dem steinernen Frauenbildnis einen weiteren Stoß versetzte. »Ich gebe ihn frei. Nintau ist zerstört. Es gibt nichts mehr, was ihr beschützen müsst.« Die Statue bewegte sich nicht, aber das machte Noelani nur noch wütender. Wie sie es beim Waytan, der waffenlosen Kampftechnik ihres Volkes, gelernt hatte, versetzte sie der Statue mit einem lauten Schrei einen gekonnten Fußtritt gegen die Brust.
Diesmal hatte sie Erfolg. Unter unheilvollem Knirschen kippte die Statue nach hinten und zerbarst. Die Arme brachen ab, der Brustkorb zersplitterte, und der Kopf rollte ein Stück weit den Abhang hinunter.
Noelani erschrak. Das Gefühl, einen entsetzlichen Frevel begangen zu haben, flammte kurz hinter ihrer Stirn auf, aber die Reue war zu schwach und wurde von der Wut, die in ihr loderte, sogleich verdrängt. Nach einem kurzen Blick auf die zerstörte Statue wandte sie sich um und setzte ihr Werk an der nächsten steinernen Jungfrau fort.
Es gab für sie kein Halten mehr. Eine Statue nach der anderen fiel ihrem Wüten zum Opfer, und obwohl ihre Fußsohlen längst bluteten, dachte sie nicht ans Aufhören. Sie war entschlossen, den Dämon zu befreien, damit er zu denen zurückkehren konnte, die nach ihm gesucht hatten. Dabei erschien es ihr nur gerecht, wenn er erwachte und sie tötete. Sie hatte es verdient. Was hatte sie denn noch zu verlieren? Kaori und alle, die ihr jemals etwas bedeutet hatten, waren tot, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder mit ihnen vereint zu sein.
Aber der Dämon erwachte nicht. Nicht, als die letzte der Jungfrauen zerschmettert am Boden lag, und auch nicht, als Noelani sich in blinder Raserei auf den Felsen stürzte und mit den Fäusten gegen den Stein hämmerte, bis auch ihre Hände zu bluten begannen.
»Wach auf!«, schrie sie den Luantar unter Tränen an. »Ich gebe dich frei! Verdammt, wach doch auf!« – Vergeblich. Nicht die kleinste Regung im Stein deutete darauf hin, dass ein Lebensfunke in dem Fels erwachte. Kein Zucken, kein Erbeben – nichts.
Irgendwann verließen Noelani die Kräfte, und sie sank zu Boden, wo sie sich schluchzend zusammenkauerte. Sie hatte das Schlimmste getan, dessen man sich auf Nintau schuldig machen konnte. Sie hatte den Kreis der steinernen Jungfrauen zerstört, aber anders als in der Überlieferung beschworen, hatte sie den Dämon damit nicht zum Leben erweckt. Stein blieb Stein. Kalt und leblos.
Eine Lüge!
Plötzlich wurde Noelani alles klar. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schrie ihre Pein in den Morgen hinaus. Ihr Leben und alles, woran sie je geglaubt hatte, lagen in Scherben. Ihre Angehörigen und ihre Freunde waren tot. Die Zukunft war dunkel. Aber schlimmer noch als das war die Erkenntnis, dass sie ihr ganzes Leben lang belogen worden war.
Es gab gar keinen Dämon. Es hatte nie einen gegeben. Und es gab auch niemanden, der nach ihm gesucht hatte.
Sie hatte sich geirrt. Die Überlieferung war eine Lüge. Ihr Leben als Maor-Say war ebenso eine Lüge wie die Sicherheit, in der sich ihr Volk gewähnt hatte. All die Jahre hatten sie sich vor dem Dämon zu schützen versucht, dabei kam die Bedrohung von ganz woanders, von einem unbekannten Ort.
Warum?
Warum haben uns die Alten belogen?
Warum?
Noelani schluchzte auf, zog die Beine an den Körper und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt und fand kaum noch die Kraft zu weinen. Während die Sonne immer höher stieg und sie mit ihren freundlichen Strahlen wärmte, saß sie einfach nur da, weinte und dachte an Kaori.
Kaori, die sie niemals wiedersehen würde und die sie so schmerzlich vermisste, als sei mit ihr ein Teil ihres Selbst gestorben.
* * *
Kaori wusste, was sie erwartete, noch ehe sie den Weiher erreichte. Obwohl der Nebel sehr dicht war und die Düsternis unter den Bäumen ihr Einzelheiten ersparte, ließen die vielen Toten, die ihren Weg säumten, keinen Zweifel an der bösartigen Wirkung des Nebels aufkommen. Auf halber Strecke stieß sie auf eine ganze Horde verendeter Affen. Die meisten waren aus den Bäumen zu Boden gestürzt, andere hingen aufgespießt an Ästen oder kopfüber in Astgabeln. Auch einen Baumbrüller fand sie, und ganz in der Nähe des Teichs lag die tote Monkasikuh neben ihrem Jungen.
Am Weiher angekommen, blieb Kaori
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