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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Felten
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zwischen den Bäumen und bedeckte den Boden. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder daran erinnerte, was geschehen war. Die flüchtenden Menschen, der Nebel, der über das Meer kam und das Dorf überrollte, das Gefühl zu ersticken …
    Vorsichtig richtete sie sich auf – und erblickte sogleich die erste Tote. Es war die Mutter, die mit ihren beiden Kindern vor dem Nebel geflohen war. Den erstickten Säugling hielt sie in den leblosen Armen, das Gesicht hatte sie ihrer Tochter zugewandt. Diese lag nur zwei Schritte entfernt, die Hand hilfesuchend ausgestreckt, die Augen vor Angst und Entsetzen weit aufgerissen, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
    Kaori wandte sich erschaudernd ab. Der Anblick der Toten war für sie nur schwer zu ertragen. Überall zwischen den Bäumen lagen verkrümmte Körper, Männer, Frauen und Kinder, aber auch Tiere. Manche wurden gnädig von dem Dunst oder Büschen verdeckt, andere waren so nah, dass Kaori ihnen in die erloschenen Augen blicken konnte.
    Tot. Sie sind alle tot. Alle außer mir. Grauen schnürte Kaori die Kehle zu. Dann fielen ihr die Kinder ein, die sie am Weiher zurückgelassen hatte.
    Bei den Göttern …
    Sie sprang auf und wollte zum Weiher zurücklaufen, hielt aber mitten in der Bewegung inne und starrte mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen auf die zusammengesunkene Gestalt, die unter ihr am Boden lag – auf sich selbst.
    Unmöglich! Kaori schnappte nach Luft. Das konnte nicht sein. Sie war nicht tot, konnte nicht tot sein. Sie war doch hier, fühlte, dachte, sah … Das musste eine Sinnestäuschung sein. Kaori kniff die Augen fest zusammen und zählte bis fünf. Doch vergeblich. Als sie die Augen wieder öffnete, bot sich ihr das gleiche Bild.
    Ein Irrtum war ausgeschlossen. Dort am Boden lag sie selbst, bleich und starr, die Hände um den Hals verkrampft mit einem Gesichtsausdruck, der von großer Qual kündete.
    Nein!
    Kaori schüttelte heftig den Kopf, aber das verstörende Bild ließ sich nicht verscheuchen.
    Nein, nein, nein …
    Ich bin nicht tot. Ich lebe. Ich lebe doch!
    Ich … ich muss verrückt geworden sein.
    Fort, nur fort von diesem furchtbaren Ort! Der Gedanke kam, und Kaori reagierte sofort. Von wilder Panik erfasst, wirbelte sie herum und floh in den Wald hinein. Über Wurzeln und Astwerk, vorbei an Toten, deren erloschene Augen sie anzustarren schienen – und manchmal, ohne es zu bemerken, auch mitten durch die Stämme der Bäume hindurch.

4
    Die Tränen versiegten, der Schmerz aber blieb. Noelani ahnte, dass sie ihn niemals würde überwinden können. Zu grausam hatte das Schicksal ihrem Volk mitgespielt, zu viele Menschen, die sie liebte, hatte sie verloren. Von diesem Morgen an, dessen war sie sich gewiss, würden Schmerz und Trauer ihre ständigen Begleiter sein, so wie die Schmach über ihr Versagen und das Wissen um die Schuld, die sie auf sich geladen hatte.
    Sie hätte die Menschen ihrer Heimat schützen sollen, so wie es Generationen von Maor-Say vor ihr getan hatten. Man hatte sie darin ausgebildet, die feinen Schwingungen zu spüren, die von dem versteinerten Dämon ausgingen. Sie hätte die Veränderung spüren und die Bewohner der Insel warnen müssen.
    Aber sie hatte nichts gespürt.
    Heute nicht und auch nicht am Abend zuvor, als sie den Luantar aufgesucht hatte, um die rituellen Handlungen durchzuführen, die ihn nach der Überlieferung in seiner steinernen Hülle gefangen hielten, und zu beten.
    Vielleicht habe ich etwas falsch gemacht? Der Gedanke tauchte ganz unvermittelt hinter ihrer Stirn auf und setzte sich dort fest.
    Hatte sie etwas übersehen, vergessen oder anders gemacht, als es die Überlieferung vorschrieb? Hatte sie am Ende selbst die Katastrophe durch Unachtsamkeit oder Unwissen heraufbeschworen? Noelani überlegte fieberhaft. Schritt für Schritt ging sie noch einmal alles durch, was sie getan hatte, fand jedoch keinen Fehler und keine Versäumnisse. Aber was war es dann? Die Frage ließ Noelani keine Ruhe. Sie musste wissen, was geschehen war, musste etwas tun – irgendetwas.
    Und dann wusste sie es. Ruckartig setzte sie sich im Bett auf. Hier im Tempel würde sie keine Antworten auf die Fragen bekommen, die sie quälten. Es gab nur einen Ort, an dem sie diese finden würde – oben auf dem Berg, dort, wo der Dämon in seiner steinernen Hülle gefangen saß. Noelani zögerte nicht, schlüpfte aus dem Bett und verließ ihr Schlafgemach. Auf bloßen Füßen hastete sie durch den Tempel,

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