Kristall der Macht
ohne auf die Bediensteten zu achten, die in Gruppen ratlos und trauernd beisammenstanden und ihr verwundert nachblickten.
Ihre Beine fanden den Weg wie von selbst, als sie die Tempelanlage verließ und den steilen, von Wind und Regen ausgewaschenen Pfad zum Dämonenfels erklomm, so wie sie es in den vergangenen Jahren schon Hunderte Male getan hatte. Sie hatte den Aufstieg stets als ermüdend empfunden, diesmal aber war jeder Schritt von Entschlossenheit geprägt, und sie spürte keine Erschöpfung.
Nur ein einziges Mal schaute sie sich um – und erschrak.
Der Giftatem des Luantar war überall. Einsam ragte der Berg, auf dem der Tempel errichtet worden war, aus dem Nebel hervor, der sich in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont erstreckte. Der Anblick war so entsetzlich und furchteinflößend, dass sie ihr Gesicht sofort wieder der Sonne zuwandte, die so mild von einem wolkenlosen Himmel schien, als wolle sie die Überlebenden des Dämonenzorns verspotten.
Noelani presste die Lippen zusammen. Geh weiter!, spornte sie sich in Gedanken an. Schau nach vorn und nicht zurück. Nicht zurück. Dabei malte sie sich aus, was sie oben am Dämonenfelsen erwarten würde. Gewiss hatte der Luantar in seiner Wut die Statuen der fünf Jungfrauen zerstört, die in einem Kreis um ihn herum aufgestellt waren und ihn mit der Magie ihrer Kristallherzen am Erwachen hindern sollten.
Die fünf Jungfrauen wurden auf der Insel wie Heldinnen verehrt, denn sie hatten einst ihr Leben gegeben, um die Insel und ihre Bewohner vor dem Dämon zu schützen. Die Überlieferungen berichteten davon, wie der Luantar die Insel eines Tages ohne jeden Grund angegriffen und fast alle Bewohner mit seinem Giftatem getötet hatte. Die wenigen Überlebenden hatten sich auf den Berg geflüchtet, der auch damals über dem Nebel aufgeragt haben musste. Dort hatten sie ausgeharrt und gehofft, dass sie von dem Giftatem verschont blieben. Der Dämon aber war noch einmal zurückgekehrt, um sein Werk zu vollenden und auch die letzten Inselbewohner zu töten.
Als er sich genähert hatte, war ihm die Maor-Say der Insel mutig entgegengetreten. Damals waren die Maor-Say noch keine Dämonenhüterinnen gewesen, sondern Frauen, die die Gabe besaßen, echte Magie zu weben. Diese Gabe aber war inzwischen verloren gegangen. Allein die Fähigkeit der Geistreise war den Maor-Say geblieben und zeichnete sie als Nachkommen der einst so mächtigen Blutslinie aus.
Es hieß, die Maor-Say habe den Dämon um Gnade angefleht, seine Weisheit gepriesen und ihm einen Handel vorgeschlagen. Wenn er die Insel verschonen würde, würden die Bewohner ihm zeit seines Lebens alle zehn Jahre fünf Jungfrauen als Opfer darbringen.
Der Dämon hatte eingewilligt und noch am selben Abend die Tributzahlung auf dem Berg eingefordert. Als die Sonne untergegangen war, hatte er die Jungfrauen an Pfähle gebunden auf einer Wiese vorgefunden. Die Pfähle waren im Kreis angeordnet gewesen, und so hatte er sich zufrieden in der Mitte niedergelegt und sich am Anblick der Jungfrauen ergötzt, bis er eingeschlafen war.
Auf diesen Augenblick hatten die Frauen nur gewartet. Eine jede hatte einen Kristall bei sich gehabt, den sie hervorgeholt hatten, ehe sie gemeinsam die magische Litanei anstimmten, die die Maor-Say sie gelehrt hatte. Schon die ersten Verse, so hieß es, hätten den Luantar gelähmt, und die nächsten hätten ihn zu Stein erstarren lassen, ohne dass er sich dagegen hätte wehren können. Die List der alten Maor-Say war geglückt, aber sie hatte einen hohen Preis gefordert, denn mit dem Dämon waren auch die fünf Jungfrauen zu Stein erstarrt. Die magischen Kristalle waren in ihren Steinleibern eingeschlossen und hielten den Zauber aufrecht, während die Jungfrauen noch immer um den versteinerten Leib des Dämons aufgestellt waren. Glaubte man der Überlieferung, würde der Luantar sich so lange nicht rühren können, wie der Kreis unbeschadet war und die Kristalle an ihren Plätzen blieben.
Solange die Kristalle an ihren Plätzen blieben … Noelani durchzuckte ein eisiger Schrecken. Konnte es sein, dass die Kristalle gestohlen worden waren? War es möglich, dass jemand den Dämon absichtlich erweckt hatte? Neid, Missgunst und Rachegelüste waren auch den Bewohnern der Insel nicht fremd. Wie weit mochte eine verzweifelte Seele bereit sein zu gehen? So weit, ein ganzes Volk auszulöschen? Der Gedanke überstieg Noelanis Vorstellungsvermögen. Von der Hand zu weisen war er jedoch nicht.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher