Kristall der Macht
sie nicht wusste, wohin ihr Weg führte, war es doch offensichtlich, dass sie sich zielstrebig auf etwas zubewegte. So wie alle anderen auch. Durch Stille und Düsternis hindurch, allein und doch nicht allein.
Wie lange sie so dahintrieb, wusste sie nicht. Die Zeit, so kam es ihr vor, spielte an diesem Ort keine Rolle. Dann entdeckte sie das Licht. Warm und einladend erhellte es das Nebelgrau in der Ferne. Es schien sie zu rufen, und tatsächlich spürte sie, dass sie nun schneller vorankam. Wenig später konnte sie zum ersten Mal die anderen erkennen: gesichtslose graue Gestalten, die sich im Zwielicht bewegten und wie sie auf das Licht zustrebten. Körperlos und doch nicht unsichtbar, mit fließenden Konturen, die nur vage erahnen ließen, dass es sich um Menschen handelte.
Menschen. Das Wort schlich sich wie selbstverständlich in ihre Gedanken. Bin ich ein Mensch? Sie versuchte die Frage zu beantworten, aber es gab keine Erinnerung, auf die sie hätte zurückgreifen können, und so blieb das Wort für sie nicht mehr als eine sinnentleerte Buchstabenfolge. Die ungelöste Frage schwebte davon, und bald hatte sie sie vergessen. Schweigend reihte sie sich in die endlose Prozession derer ein, die auf das Licht zustrebten. Das Licht war wichtig, das fühlte sie. Es war die Erfüllung all dessen, wonach sie sich jemals gesehnt hatte. Was immer vorher auch gewesen sein mochte, hier endeten alle Wege, hier liefen alle Schicksale zusammen, um jenseits des Lichts einen neuen Anfang zu nehmen.
In der Ferne sah sie die Ersten in das Leuchten treten, sah, wie sie ihre Umrisse verloren und selbst zu einem Teil des Lichts wurden, hell und frei. Der Anblick weckte eine große Sehnsucht in ihr. Jetzt gab es nur noch das Licht. Das Ziel! Sie wollte sich schneller bewegen, stellte aber sogleich fest, dass sie keinen Einfluss auf ihre Fortbewegung hatte. Alles schien nach einem streng geordneten Plan abzulaufen, in dem es keinen Raum für eigene Entscheidungen gab. So ließ sie sich mit der Menge treiben und wartete, während sie mehr und mehr den Augenblick herbeisehnte, in dem auch sie eins werden würde mit dem Licht.
Bald war sie so nah, dass sie Gestalten erkennen konnte, die sich schwebend in dem Licht bewegten. Auch sie waren schemenhaft, aber nicht grau, sondern strahlend schön, Lichtgeschöpfe, wie sie bezaubernder nicht hätten sein können. Wann immer eine graue Gestalt aus dem Nebel das Tor durchschritt, schlossen sie sie in die Arme und trugen sie davon, während das Grau verblasste und ein weiteres Lichtgeschöpf geboren wurde.
Das Ziel. Sie hatte es gefunden. Sie konnte den Blick nicht von dem Tanz der Lichtgeschöpfe abwenden. Gleich! Gleich würde auch sie an der Reihe sein und …
»Du nicht!«
Ein Schatten schob sich vor das Licht, und sie spürte, wie sie aufgehalten wurde. Es war niemand zu sehen, aber die Worte hallten in ihrem Bewusstsein wie Donnerschläge nach.
Sie wollte etwas einwenden, aber sie hatte keine Stimme. Sie wollte sich an dem Schatten vorbeidrängen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Hilflos musste sie mit ansehen, wie die grauen Gestalten weiterzogen, während ihr der Zutritt zum Licht verwehrt wurde. In ihrer Verzweiflung nahm sie all ihre Kraft zusammen und formte einen einzigen kurzen Gedanken: »Warum?«
»Weil du nicht vollkommen bist. Gemeinsam seid ihr aufgebrochen, und nur gemeinsam könnt ihr zurückkehren. So lautet das Gesetz. Und jetzt geh!«
Das letzte Wort war noch nicht gesprochen, da fühlte sie einen Sog, der an ihr riss und sie von dem Licht fortzerrte. Sie stemmte sich dagegen, doch ihre Kräfte reichten nicht aus. Der Sog trug sie fort, zurück in das Nebelgrau, während das Licht immer kleiner wurde und ihren Blicken entschwand.
Nein, nein! Sie schluchzte auf. Verzweifelt wehrte sie sich gegen die Kräfte, die auf sie einwirkten und ihr versagten, wonach sie sich mehr als alles andere gesehnt hatte – doch vergeblich. Als das Licht nicht mehr zu sehen war, gab sie ihren Widerstand auf. Ihre Erinnerung löste sich auf, sie vergaß, warum sie sich gegen den Sog gewehrt hatte. So glitt sie dahin, stumm und willenlos, ein grauer Schatten im Nirgendwo, während sich das allgegenwärtige Grau langsam in einen schmutzig-gelben Nebel verwandelte, in dem sich nach und nach die Umrisse von Büschen und Bäumen abzeichneten …
Blinzelnd öffnete Kaori die Augen.
Was sie sah, war gespenstisch. Ein zäher gelber Dunst hatte den Wald verschlungen; träge hing er
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