Kristall der Macht
Stimme wisperte: Weil du nicht vollkommen bist. Gemeinsam seid ihr aufgebrochen, und nur gemeinsam könnt ihr zurückkehren. So lautet das Gesetz.
Gemeinsam seid ihr aufgebrochen … In Gedanken wiederholte Kaori, was die Stimme gesagt hatte – und verstand. Die Worte konnten sich nur auf ihre Geburt beziehen. Gemeinsam mit Noelani hatte ihr Leben begonnen.
… nur gemeinsam könnt ihr zurückkehren. Obwohl sie kein Herz mehr hatte, das in ihrer Brust hätte schneller schlagen können, spürte Kaori eine freudige Aufregung. Die Worte konnten nur eines bedeuten: Noelani war noch am Leben! Kaori wirbelte herum und begann zu laufen, schneller und schneller, so schnell, wie sie es in ihrer sterblichen Hülle niemals vermocht hätte. Der Strand und das Dorf blieben hinter ihr zurück, während der Wald zu einem konturlosen graugrünen Farbmuster verschmolz, das in Windeseile an ihr vorüberzog. Zum ersten Mal fand sie Gefallen an ihrer neuen Gestalt und erkannte die Möglichkeiten, die sich ihr damit eröffneten. Sie verspürte weder Hunger noch Durst, keinen Schmerz und keine Erschöpfung. Ihre Kräfte schienen unerschöpflich und schwanden selbst dann nicht, als sie mit dem Aufstieg zum Tempel begann.
5
»Bei den Göttern, was hast du getan?« Fassungslos starrte Jamak auf das Bild der Verwüstung, das sich ihm am Ruheplatz des Luantar bot. Die steinernen Jungfrauen waren umgestürzt und lagen in Trümmern. Lediglich die Rümpfe und die Köpfe der Skulpturen waren noch als solche zu erkennen, obgleich in den Brustkörben der Jungfrauen handtellergroße Löcher klafften. Die Gliedmaßen waren zerbrochen und über den ganzen Platz verstreut, wie achtlos fortgeworfener Schutt. Und mittendrin kauerte Noelani und starrte auf etwas, das Jamak verborgen blieb.
Der Anblick der jungen Frau, die ihm im Laufe der Jahre wie eine Tochter ans Herz gewachsen war, dämpfte die Wut ein wenig, die Jamak angesichts der Zerstörung empfand. Langsam ging er auf Noelani zu, kniete sich neben sie, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich, wie es Väter zu tun pflegen, die ihre Töchter trösten.
Noelani wehrte sich nicht. Stumm ließ sie es geschehen, als er sie in die Arme schloss und ihr über das Haar strich, wie er es früher immer getan hatte, wenn das Heimweh sie plagte oder ein anderer Kummer in ihr wütete. So saßen sie schweigend beisammen, der Mentor und die Maor-Say inmitten der Trümmer all dessen, woran sie geglaubt und wofür sie gelebt hatten.
Die Zeit verstrich. Das Schweigen dauerte an. Er wartete.
Es war ein vages Gefühl, das ihm sagte, dass sie zu sprechen bereit war, und so lockerte er die Arme ein wenig, um ihr den Raum zu geben, den sie benötigte. Schließlich fand sie die Kraft, das Wort an ihn zu richten: »Lügen! Es waren alles Lügen«, stieß sie hervor, und die Verbitterung, die darin mitschwang, machte es ihm erneut unmöglich, ihr zu zürnen.
»Lügen?«, hakte er nach.
»Ja, Lügen. Die Legende des Luantar ist eine einzige Lüge.« Sie hob den Arm, deutete auf das Untier und fragte: »Sieht so ein versteinerter Dämon aus, der heute Morgen zum Leben erwacht ist?«
»Wohl kaum.« Jamak legte die Stirn in Falten und fügte hinzu: »Ich vermute, er wäre dann nicht mehr hier.«
»Eben.« Noelani nickte. »Dieser Dämon hier tut niemandem etwas zuleide. Er ist nicht schuld an dem Unheil, das über unser Volk gekommen ist. Er ist und bleibt versteinert. Aber damit nicht genug. Auch die Geschichte der Jungfrauen, die angeblich über ihn wachen, ist eine Lüge.« Sie öffnete die geballte Faust, hielt Jamak die fünf Kristalle entgegen, die in den Skulpturen eingeschlossen waren, und gab ein kurzes, freudloses Lachen von sich. »Die Kristalle gibt es wirklich«, fuhr sie fort. »Aber sie sind nicht das, was sie sein sollen. Wie du siehst, habe ich alle Statuen zerstört und ihnen die Kristalle entrissen, aber dieser Dämon schläft immer noch. Er wacht nicht auf, so wie es vorhergesagt wurde.« Sie schaute ihn eindringlich an. »Er wacht nicht auf – verstehst du? Er kann gar nicht aufwachen, weil er nur ein Felsen ist, der zufällig wie ein Luantar aussieht. Unsere Rituale, unser Glaube … alles gründet auf Lügen, die die Alten in ihre Legenden verwoben haben. Sie haben uns getäuscht.« Noelani holte aus und schleuderte einen der Kristalle in das nahe Gebüsch.
»… getäuscht.« Dem ersten folgte ein weiterer Kristall.
»… getäuscht.« Wieder flog ein Kristall in die
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