Kristall der Macht
Büsche.
»… und noch mal getäuscht.« Auch der vierte Kristall landete irgendwo jenseits des freien Platzes. »All die Jahre, bis …«
»Warte!« Jamak hielt ihren Arm fest, ehe sie den fünften Kristall wegwerfen konnte. »Warum hast du die Skulpturen zerstört?«, fragte er, in der Hoffnung, sie ein wenig beruhigen zu können.
Noelani verstummte, zögerte kurz, ließ den Arm sinken und sagte dann: »Weil ich den Luantar freigeben wollte. Ich dachte zunächst, es sei ein anderer Dämon gekommen, der Rache nehmen wollte für das, was wir diesem hier angetan haben. Aber ich … ich habe mich geirrt. Was immer die Insel heimgesucht hat, ist nicht das Werk eines Dämons, weder von diesem hier noch von einem anderen. Es war falsch. Alles war falsch. Wir fühlten uns sicher und ahnten nicht, wie schutzlos wir in Wirklichkeit waren. Vielleicht hätten wir eine Möglichkeit gehabt, uns zu retten, wenn wir die wahre Ursache gekannt hätten. Vielleicht hätten wir fliehen können. Wir aber waren blind und taub und …«
»Du musst dir keine Vorwürfe machen.« Jamak spürte, wie aufgewühlt Noelani war, dass sie sich quälte und nach Antworten suchte. »Wir wissen nicht, wie die Legenden entstanden sind, und wir werden es nie erfahren. Wir wurden hier geboren und sind mit ihnen aufgewachsen. Wir glaubten den Überlieferungen bedingungslos und würden auch heute nicht an ihnen zweifeln, wenn das Unheil nicht erneut über uns gekommen wäre und uns eines Besseren belehrt hätte. Was geschehen ist, können wir nicht ändern, die Toten nicht wieder lebendig machen. Niemand darf es uns verwehren, zu trauern und denen zu zürnen, die uns in die Irre führten, aber bei alledem dürfen wir nicht vergessen, dass es auch Überlebende gibt, denen wir verpflichtet sind.«
»Überlebende?« Noelani schaute Jamak spöttisch an. »Wie viele? Drei? Fünf? Zehn? Eine Handvoll armseliger Geschöpfe, die …«
»Mehr als hundert!«
Noelani riss erstaunt die Augen auf. »Hundert? Aber wie …?«
»Die meisten kommen aus höher gelegenen Gebieten, aber offensichtlich ist es auch einigen aus dem Dorf gelungen, die Hänge zu erklimmen, ehe der Nebel sie einholte«, berichtete Jamak. »Eine Gruppe Jäger war im Wald, andere hielten sich auf den Hügeln auf. Als ich mich auf den Weg zu dir machte, hatten mehr als hundert von ihnen den Weg zum Tempel gefunden, und ich zweifle nicht, dass es inzwischen noch viel mehr geworden sind, die dort Zuflucht gesucht haben.«
»So viele?« Es war nicht zu übersehen, wie aufgeregt Noelani mit einem Mal war. »Was ist mit Kaori?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Ist sie …?«
»Ich weiß es nicht.« Jamak schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe sie nicht gesehen«, sagte er und fügte rasch hinzu: »Aber du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, vielleicht hat sie den Tempel ja inzwischen erreicht.«
»Dann lass uns hinuntergehen und nachsehen.« Plötzlich hatte Noelani es eilig. Achtlos ließ sie den Kristall fallen und richtete sich auf, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne.
»Was ist los?« Auch Jamak hatte sich erhoben.
»Glaubst du, es ist klug zurückzugehen?«, fragte Noelani besorgt. »Die Menschen sind überzeugt, dass der Dämon erwacht ist und Rache genommen hat. Du sagst, sie suchen Zuflucht im Tempel, aber das stimmt nicht. Als Maor-Say hätte ich über den Luantar wachen sollen, also geben sie mir die Schuld an dem furchtbaren Unglück und kommen nur zum Tempel, um Genugtuung … und vielleicht auch meinen Tod zu fordern.«
»Das glaube ich nicht.« Jamak schüttelte den Kopf. »Natürlich sind viele der Flüchtlinge verwirrt, verzweifelt und hilflos, aber sie sind nicht von dem Wunsch nach Rache beseelt. Sie kommen zum Tempel, weil es der einzige Ort ist, an dem sie sich sicher fühlen, weil sie darauf vertrauen, dass die Maor-Say … dass du ihnen helfen kannst.«
»Aber das … das kann ich nicht!« Noelani rang in einer hilflosen Geste die Hände. »Ich bin doch genau so verzweifelt und hilflos wie sie und …«
»Du bist nicht wie sie, du bist die Maor-Say.« Jamak betonte jedes Wort, um ihm mehr Gewicht zu verleihen. Er konnte sehen, wie es in ihrem Gesicht arbeitete. Wie sie mit sich rang. Sie war noch jung und unerfahren. Eine zurückhaltende und scheue Person, die sich selbst erst finden musste, nicht die geborene Anführerin, die ihr Volk jetzt so dringend gebraucht hätte. Gerade erst hatte sie begonnen, sich mit den Aufgaben und Pflichten einer Maor-Say
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