Kristall der Macht
als zittere sie am ganzen Körper. Sie hatte geglaubt, mit dem Tod das Schlimmste schon hinter sich zu haben, aber sie hatte sich geirrt. Diesem furchtbaren Untier gegenüberzustehen war furchteinflößender als alles, was ihr bisher zugestoßen war.
»Ich habe es dir gesagt«, grollte der Dämon. »Denk nach. Was bin ich?«
Kaori versuchte, sich zu erinnern, aber die Antwort wollte ihr nicht einfallen. »Ein Dämon?«, fragte sie vorsichtig.
» DENK NACH !«, forderte der Dämon.
»Aber ich weiß es nicht.«
»Denke!«
»Das tue ich ja.«
»Nein. Du denkst nicht. Du redest nur.«
»Und wenn ich mich nicht erinnern kann?«
»Dann bist du es nicht wert, dass ich mich mit dir abgebe.«
»So?« Die überhebliche Art des Luantar machte nun auch Kaori wütend. »Dann verschwinde doch. Ich habe dich nicht gerufen.«
»Das wird aber ziemlich einsam für dich«, gab der Dämon zu bedenken. »Die anderen waren immerhin zu fünft.«
»Gefangen!« Plötzlich fiel es Kaori wieder ein. »Du sagtest, dass du gefangen bist.« Sie überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Unsere Legenden sagen, dass die Maor-Say dich in Stein verwandelt und getötet hat.«
»Eure Legenden erzählen nichts als Lügen«, wetterte der Dämon verächtlich. »Die Maor-Say hätte mich zu gern getötet, aber sie war zu schwach. Ihre Kräfte reichten gerade dazu, meinen Körper hier gefangen zu setzen. Meinen Geist aber konnte sie nicht bezwingen.«
»Du hast mein Volk damals fast völlig ausgerottet«, warf Kaori dem Dämon vor. »Du hast hundertfachen Tod und unsägliches Leid über die Menschen von Nintau gebracht. Der Tod wäre …«
»Das ist nicht wahr!« Der Dämon unterstrich seine Worte mit einem aufgebrachten Flügelschlag. »Ich habe niemanden getötet. Ich bin selbst ein Opfer dessen, was damals geschehen ist.«
»Du? Ein Opfer?«, fast hätte Kaori laut gelacht. »Das glaube ich dir nicht!«
»Schweig!« Die Klaue des Dämons schoss vor, packte Kaori und hob sie mühelos in die Höhe. »Du weißt nicht, wovon du sprichst«, fauchte er. »Was du zu wissen glaubst, stammt aus den verlogenen Legenden, die die Maor-Say in die Welt gesetzt hat, um ihr eigenes Versagen zu verbergen. Ein Lügengebilde, dazu geschaffen, die Wahrheit so lange geheim zu halten, bis das Unheil euch erneut heimsucht. Ich habe dein Volk nicht getötet. Damals nicht und auch diesmal nicht.«
»Und warum bist du dann hier?« Mehr als drei Schritt über dem Boden in der Klaue des Dämons schwebend, bemerkte Kaori überrascht, dass sie kaum noch Furcht empfand. »Warum hat die Maor-Say deinen Körper in Stein verwandelt, wenn du unschuldig bist?«
»Weil sie einen Schuldigen brauchte.« Der Dämon schnaubte vor Wut. »Sie wusste nicht, woher der Nebel gekommen war, und es war ihr wohl auch gleichgültig. Sie fürchtete nur um ihre Macht und wollte von den Überlebenden als glorreiche Retterin angesehen werden. Deshalb beschwor sie mich. Mittels Magie riss sie mich aus der Welt, die ich meine Heimat nannte, verwandelte meinen Körper zu Stein und gab meinen Geist der ewigen Verbannung anheim.«
»Keine Maor-Say hat die Macht, einen Luantar zu beschwören.«
»Heute nicht mehr«, räumte der Dämon ein. »Das Erbe der Magie ist nur noch schwach in denen vorhanden, die die Gabe der Geistreise ihr Eigen nennen. Damals aber entstammten die Maor-Say einer Gruppe sehr mächtiger Magierinnen, die uns Dämonen sehr wohl zu unterwerfen wussten.«
Kaori schaute ihn prüfend an. Obwohl es keine Beweise dafür gab, spürte sie, dass er die Wahrheit sagte. »Das war unrecht.«
»Menschen sind so.«
»Nicht alle.«
»Aber die meisten.«
Kaori entschloss sich einzulenken. »Wenn das alles wahr ist«, sagte sie. »Wenn es sich tatsächlich so zugetragen hat, wie du es mir erzählt hast … dann kannst du mir sicher auch eine Frage beantworten.«
»Und welche?«
Kaori zögerte kurz, dann erhob sie das Wort: »Wenn er nicht von dir stammt, woher kommt dann der tödliche Nebel?«
»Was geht mich das an? Der Nebel kommt und geht, mich kümmert er nicht.«
»Aber du weißt es«, hakte Kaori nach.
»Warum willst du das wissen?«, antwortete der Dämon mit einer Gegenfrage. »Du bist tot. Dir kann er nichts mehr anhaben.« Ohne dass Kaori ihn darum gebeten hatte, setzte er sie wieder auf den Boden.
»Mir nicht, aber denen, die überlebt haben.« Kaori schaute den Dämon eindringlich an. »Sie müssen erfahren, dass die Legende eine Lüge ist. Nur so können sie
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