Kristall der Macht
musste, weil sie den Tod schon hinter sich hatte, spürte sie einen Anflug von Panik. »Zeig dich«, rief sie und hoffte, dass ihr die Furcht nicht anzumerken war. »Ich habe dich gehört. Ich weiß, dass du da bist.«
»Gar nichts weißt du, Menschenfrau.« Die Verachtung, die in den Worten mitschwang, ließ Kaori unweigerlich zurückweichen, verriet ihr aber auch, woher die Stimme kam. Wer immer da zu ihr sprach, musste sich hinter dem steinernen Dämon verstecken. Den Gedanken, hinüberzuschweben und nachzusehen, verwarf sie sofort wieder. Stattdessen nahm sie all ihren Mut zusammen und versuchte, das Wesen mit Worten aus seinem Versteck zu locken.
»Aber du, du weißt wohl alles – wie?«, fragte sie herausfordernd.
Schweigen.
»Warum versteckst du dich?«
Die Stimme blieb ihr auch hierauf die Antwort schuldig.
»Du hast Angst.«
Die dunkle Stimme ließ erneut das dumpfe, spöttische Lachen ertönen. »Angst«, grollte sie. »Du solltest Angst haben.«
»Ich bin tot!« Kaori war erstaunt, wie leicht ihr das Eingeständnis über die Lippen kam, fuhr aber gleich fort: »Wovor sollte ich mich jetzt noch fürchten?«
»Tot?« Das Wesen lachte wieder. »O nein, du bist nicht tot. Du Närrin weißt nicht, wovon du redest. Nicht alles, was nicht lebt, ist tot.«
Nun war es Kaori, die schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen?
Ihr Körper lag unten am Rand des Dorfes. Der Nebel hatte sie dahingerafft wie all die anderen auch. So viel war sicher. Sie war nicht mehr am Leben – war also tot.
»Du bist neu hier«, stellte die Stimme fest.
»Du nicht?« Kaori rechnete nicht wirklich mit einer Antwort, aber diesmal bekam sie eine.
»Nein.«
Sie horchte auf. »Gibt es hier noch mehr, die wie wir sind?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Was heißt das?«
»Dass wir allein sind.«
»Und wo sind die anderen?«
»Tot.«
»Ach wirklich? Das sind wir ja wohl auch.« Kaori seufzte.
»Nein, das sind wir nicht.«
»Aber was sind wir dann?«
»Irgendetwas dazwischen – du zumindest.«
»Und was bist du?«
»Gefangen.«
»Aha.« Allmählich begann das seltsame Gespräch Kaori zu verwirren. »Aber die anderen sind tot?«, vergewisserte sie sich noch einmal. »Richtig tot?«
»Ja.«
»Hat der Nebel sie getötet?«
»Nein.«
»Wer dann?«
»Die Maor-Say.«
»Das … das ist nicht wahr. Du lügst. Eine Maor-Say tötet nicht.«
»Ich lüge nicht.« Grollender Zorn schwang in der Stimme mit, aber Kaori achtete nicht darauf.
»Doch, du lügst«, beharrte sie. »Noelani würde nie …«
»Es ist, wie ich es sage«, grollte die Stimme. »Die Maor-Say tötete die anderen, indem sie die Statuen zerstörte.«
»Die Jungfrauen!« Kaori schluckte trocken. »Aber sie … sie waren doch … sie … sie sind doch schon seit Generationen …«
»Tot?«, fiel die Stimme ihr ins Wort. »Nein, sie waren nicht tot. Sie waren wie du …« Endlose Augenblicke verstrichen, dann geriet der Fels in Bewegung. Die Umrisse des Gesteins verschwammen, als verliere es plötzlich seine Festigkeit, während sich aus dem Felsen allmählich die finstere Gestalt des furchtbarsten Wesens löste, das Kaori jemals gesehen hatte – eines Luantars!
* * *
»Jamak, warte!« Noelani, die hinter Jamak den steilen Pfad hinabstieg, berührte ihren väterlichen Freund und Vertrauten leicht am Arm. Sie hatten den Tempel fast erreicht, und obwohl jenseits des Dickichts noch nichts von dem prachtvollen Bau zu sehen war, ließ das aufgeregte Stimmengewirr, das sich über dem Tempelgelände erhob, schon jetzt erahnen, dass sich dort eine große Anzahl von Menschen versammelt haben musste.
»Was ist los?« Jamak blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Fürchtest du dich?«
»Nein.« Noelani schüttelte den Kopf, aber dann nickte sie und sagte leise: »Ja, doch, irgendwie schon.« Mehr denn je wurde ihr bewusst, wie unzureichend sie sich bisher in die Rolle einer Maor-Say eingefunden hatte. Von der ruhigen, respekteinflößenden Erhabenheit, die ihre Vorgängerin ausgestrahlt hatte, war sie weit entfernt, und sie bezweifelte, dass sie diese jemals würde erreichen können. »Sie werden zornig sein und mich beschuldigen, versagt zu haben.«
»Und du wirst ihnen sagen, dass sie sich irren«, entgegnete Jamak. »Du bist unschuldig an dem, was geschehen ist, und kannst es sogar beweisen. Wenn sie das verstanden haben, werden sie dir nicht mehr zürnen.«
»Ich hoffe, du behältst recht.« Noelani nickte und straffte sich. Im Herzen fühlte sie
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