Kristall der Macht
sich wie ein Kind, das sich einer viel zu großen Aufgabe gegenübersah, und wie ein Kind sehnte auch sie sich in der Not nach Beistand. »Hilfst du mir?«, fragte sie.
»Habe ich dir jemals meine Hilfe versagt?«
»Nein.«
»Worauf wartest du dann noch?« Jamak schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und forderte sie mit einer einladenden Handbewegung auf weiterzugehen. Seite an Seite legten sie die letzten Schritte zum Tempel zurück. Während Noelanis Herz immer heftiger pochte und die Furcht, den Überlebenden gegenüberzutreten, ihr die Kehle zuschnürte, wirkte Jamak so unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung. Noelani bewunderte ihn im Stillen für seinen Gleichmut. Sie wusste, dass auch er Verwandte und Freunde im Dorf verloren hatte, doch er ließ sich nichts anmerken. Er war ein Mensch, der immer die jeweilige Notwendigkeit erkannte und den Blick stets nach vorn richtete. Die Vergangenheit schien in seinem Leben, das er bis zur Selbstaufgabe dem Dienst der Maor-Say verschrieben hatte, kaum eine Rolle zu spielen. Er besaß die Erfahrung, die ihr fehlte. Er würde die richtigen Worte finden, falls sie versagen sollte. Sie war froh, ihn bei sich zu haben, denn ihm vertraute sie wie keinem Zweiten.
Dieses Vertrauen war es, das ihr den Rücken stärkte, als sie aus dem Dickicht auf den Platz hinaustrat, der den Tempel umgab, und sich den Flüchtlingen zeigte.
Augenblicklich trat Stille ein. Alle starrten sie an.
Noelani wusste, dass sie etwas sagen musste, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Verzweifelt suchte sie nach Worten; alles, was ihr in den Sinn kam, erschien ihr mit einem Mal belanglos. Hohle Worte, die angesichts des furchtbaren Unheils weder Trost noch Hoffnung spendeten.
Die Stimmung unter den Flüchtlingen war geprägt von Trauer und Verzweiflung. Die wenigen, die sich wiedergefunden hatten und sich in glücklicher Umarmung aneinanderklammerten, konnten nicht über das Leid und den Kummer der vielen anderen hinwegtäuschen, die nur das hatten retten können, was sie am Leib trugen. Viele lagen am Boden, erschöpft von der Flucht oder entkräftet, weil eine Trauer, die jedes Ermessen überstieg, in ihnen wütete. Andere kauerten mit angewinkelten Beinen im Schatten des Tempels und starrten blicklos zu ihr hinüber, während sie die Lippen wie bei einem eintönigen Singsang bewegten.
Noelani war erschüttert. Während sie nach Worten suchte, irrte ihr Blick umher, in der Hoffnung, irgendwo in der Menge Kaori zu entdecken. Was sie fand, waren harte und unversöhnliche Blicke, von denen jeder einzelne zu sagen schien: »Du bist schuld an unserem Elend.«
Endlos tröpfelte die Zeit dahin. Das Schweigen vertiefte sich und lastete schließlich so schwer über dem Platz, dass Noelani glaubte, es mit den Händen greifen zu können, während die Blicke der Anwesenden sich weiter verfinsterten, gleich einem Unwetter, das den Himmel unaufhaltsam verdunkelte.
»Sag etwas«, raunte Jamak ihr zu.
Noelani straffte sich. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen, trotzdem fühlte sie sich klein und schutzlos und wünschte sich weit fort von diesem Ort, an dem sie keine Freunde hatte.
»Bürger von Nintau«, hob sie schließlich mit viel zu dünner Stimme an, schluckte dann hart gegen den Kloß an, der ihr im Hals saß, und fügte deutlich lauter hinzu: »Meine Freunde, ich …«
»Wir sind nicht deine Freunde, Mörderin!« Ein junger Mann in der ersten Reihe hob drohend die Faust, und als hätten die anderen nur darauf gewartet, stimmten sie sogleich in den Schmähkanon ein.
»Mörderin!«
»Elende Dämonenbuhle!«
»Verfluchte Verräterin!« Diese und schlimmere Schimpfworte erhoben sich in einem wütenden Sturm über der Menge und ließen Noelani verstummen, ehe sie den Satz beendet hatte. Die Wut auf die Maor-Say, so schien es, verlieh selbst den Erschöpften neue Kräfte, denn auch sie erhoben sich und reckten zornig ihre Fäuste in die Höhe, die nicht selten ein Messer oder einen Knüppel umklammerten. Noch hielt der anerzogene Respekt vor der Maor-Say sie davon zurück, handgreiflich zu werden. Aber es schien nur eine Frage der Zeit, bis auch der letzte Funken Ehrfurcht vom unterdrückten Zorn erstickt werden würde.
»Hilf mir, Jamak!« Noelani schaute Jamak flehend an. »Bitte.«
Jamak nickte kurz, trat einen Schritt vor und stellte sich schützend vor Noelani. Dann rief er mit lauter, durchdringender Stimme: »Schweigt, ihr Affen!« Nicht jeder kam der Aufforderung nach, aber die
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