Kristall der Macht
Ratlosigkeit.
»Aber was … was sollen wir tun?« Die helle Stimme irgendwo aus der Menge brach den Bann, den das Schweigen über die Menschen gelegt hatte. Alle Blicke waren nun auf Noelani gerichtet, hoffend, bangend, wartend. Es war, wie Jamak schon angedeutet hatte: Wer es bis hierher geschafft hatte, hatte alles verloren. Familie, Freunde und auch die Hoffnung.
So wie ich. Hastig schob Noelani den Gedanken beiseite. Kaori war nicht unter den Überlebenden, das hatte sie während des Wartens schmerzlich erfahren müssen, aber sie durfte sich nicht der Trauer hingeben, die in ihrem Herzen wütete. Sie musste stark sein. Ein Vorbild. So wie es die Maor-Say immer gewesen waren. Jamak hatte die Lage richtig eingeschätzt. Die Überlebenden waren in ihrer Verzweiflung hilflos wie Kinder, die sich nach einer starken Maor-Say sehnten. Einer Maor-Say, die ihnen den Weg wies und ihnen sagte, was zu tun war. Was sie selbst fühlte, war nebensächlich. Hier und jetzt musste sie Stärke zeigen.
Noelani überlegte kurz, dann fasste sie einen Entschluss. »Auch ich kann noch nicht sagen, was die Zukunft bringen wird«, sagte sie mit fester Stimme. »Aber ich bin sicher, dass wir sie meistern werden: gemeinsam. So wie unsere Urahnen es schon einmal getan haben. Solange der Nebel die Insel bedeckt, können wir nicht zurückkehren, um die Toten zu bestatten und von ihnen Abschied zu nehmen, aber wir werden die Götter anrufen und gemeinsam für sie beten.«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich, doch Noelani war noch nicht fertig. »Ich sehe«, hob sie erneut an, »dass viele von euch nur das retten konnten, was sie am Leib tragen. Deshalb will ich alles mit euch teilen, was ich besitze. Wir werden die Vorratskammern öffnen, damit ihr keinen Hunger leidet, und auch das Wasser der Quelle ist für euch bestimmt. Meine Dienerinnen werden alle Gefäße zusammentragen, die es im Tempel gibt, damit ihr euch Wasser holen könnt. Wer keine Kleidung hat, wende sich an meine treue Dienerin Semirah. Sie wird versuchen, einen passenden Kittel zu finden.« Sie machte eine Pause, um Atem zu schöpfen, und sagte dann: »Meine Freunde. Ich weiß, all das ist viel zu wenig, aber es muss genügen, um die ärgste Not zu lindern. Die kommenden Tage werden für uns alle hart werden, aber gemeinsam werden wir auch das durchstehen, dessen bin ich gewiss.
Heute Abend aber wollen wir unsere Gedanken all denen widmen, die so grausam aus unserer Mitte gerissen wurden. Wenn die Sonne untergegangen ist, werden wir ein Trauerfeuer entzünden und gemeinsam die Worte des Abschieds sprechen. Ich bin sicher, dass die Verstorbenen sie hören werden, wo immer sie jetzt auch sein mögen.«
»Danke!«
»Du bist so großzügig.«
»Mögen die Götter dich segnen, Maor-Say.«
Von allen Seiten drangen Stimmen des Dankes an Noelanis Ohren. Auch Jamak nickte ihr anerkennend zu und sagte leise: »Gut gemacht.«
6
»… die Maor-Say töten?«, fassungslos starrte Kaori den Dämon an. »Warum?«
»Weil der Bann an die Linie der Maor-Say gebunden ist«, grollte dieser. »Erst wenn eine Maor-Say stirbt, ohne eine Nachfolgerin zu hinterlassen, bin ich frei.«
»Dann … dann waren die Jungfrauen …«
»Eine nette Beigabe, aber nicht wirklich wichtig. Der Bann hätte auch so Bestand gehabt. Das war der Maor-Say jedoch wohl nicht eindrucksvoll genug.«
»Man hat sie umsonst geopfert?« Kaori konnte nicht glauben, was sie da hörte. »Und die Kristalle?«
»Oh, die waren schon von einiger Bedeutung. Immerhin dienten sie dazu, die Macht der Magie auf mich zu lenken und meinen Körper in Stein zu verwandeln. Aber wie du siehst, bleibe ich auch jetzt versteinert, obwohl die Maor-Say die steinernen Hüllen der Jungfrauen zerstört und die Kristalle mitgenommen hat.«
»Unfassbar.« Kaori ließ den Blick schweifen, während sie das ganze Ausmaß des Betrugs zu ermessen versuchte. »Heißt das, wir waren niemals sicher?«
»Nicht einen Tag.«
»Und es kann wieder geschehen?«
»Jederzeit.«
»Dann muss ich die anderen warnen.« Kaori wirbelte herum und schaute zu dem Dämon auf. »Also, was ist nun? Weißt du, woher der Nebel kommt, oder nicht?«
»Ich weiß es, aber ich werde es dir nicht verraten.«
»Warum nicht?«
»Weil er mein Freund ist.« Auf dem Gesicht des Dämons glaubte Kaori so etwas wie ein Grinsen zu erkennen.
»Dein Freund?«, rief sie aus. »Aber er tötet mein Volk!«
»Eben.« Das Grinsen des Dämons vertiefte sich. »Und wenn er euch alle
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